Nachfolgend ein Beitrag vom 03.08.2016 von Boigs, jurisPR-ArbR 31/2016 Anm. 3
Leitsatz
Das Widerspruchsrecht nach § 613a Abs. 6 BGB kann wegen Verwirkung (§ 242 BGB) ausgeschlossen sein. Hierfür ist neben dem Zeitmoment ein sog. Umstandsmoment erforderlich. Es kommt darauf an, ob sich der Verpflichtete bei objektiver Beurteilung im Hinblick auf das Untätigbleiben des Berechtigten darauf eingerichtet hat und nach dessen gesamten Verhalten darauf einrichten durfte, dass er mit einer Rechtsausübung durch den Berechtigten nicht mehr zu rechnen braucht, so dass ihm insgesamt deshalb dessen Befriedigung unzumutbar ist.
Bei einem erheblichen Zeitablauf kann unter Umständen auch dem bloßen Untätigbleiben (widerspruchslose Weiterarbeit) bei objektiver Betrachtung entnommen werden, dass mit einer Ausübung des Widerspruchsrechts nicht mehr zu rechnen ist (Umstandsmoment). Das ist bei einer Weiterarbeit von rund sieben Jahren ohne Anzeichen, dass das Widerspruchsrecht noch ausgeübt wird, gegeben.
A. Problemstellung
Entspricht die Unterrichtung der betroffenen Arbeitnehmer anlässlich eines Betriebsübergangs nicht den gesetzlichen Anforderungen gemäß § 613a Abs. 5 BGB, ist sie also fehlerhaft, beginnt die einmonatige Widerspruchsfrist nach § 613a Abs. 6 BGB nicht zu laufen. Arbeitnehmer haben also die Möglichkeit, auch noch längere Zeit nach dem tatsächlichen Betriebsübergang dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses zu widersprechen. Es besteht keine gesetzlich festgelegte zeitliche Grenze für die Erklärung des Widerspruchs. Ein solches Recht zum Widerspruch kann allerdings verwirkt werden. Mit den Voraussetzungen der Verwirkung des Widerspruchsrechts und insbesondere den Anforderungen an das Umstandsmoment in Anbetracht eines durch einen sehr langen Zeitablauf gekennzeichneten Zeitmoments befasst sich die vorliegende Entscheidung des LArbG München.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass zwischen ihr und der Beklagten ein Arbeitsverhältnis besteht.
Mit Schreiben vom 26.07.2007 informierte die V.-GmbH (V.) die Klägerin, dass ihr Beschäftigungsbetrieb mit Wirkung zum 01.09.2007 von der Beklagten auf die V. übergehe. Die Klägerin setzte nach dem Betriebsübergang ihre Tätigkeit als Callcenter-Agentin im selben Büro am bisherigen Standort für die V. fort. Ihre wöchentliche Arbeitszeit erhöhte sich von 34 auf 38 Stunden, und ihre Vergütung änderte sich – auch in der Zusammensetzung. Am 26.05.2011 urteilte das BAG zu einem wortgleichen Unterrichtungsschreiben der V., ebenfalls vom 26.07.2007, aber ein anderes Arbeitsverhältnis betreffend, dass die Unterrichtung (hinsichtlich des Haftungssystems des § 613a Abs. 2 BGB, insbesondere der gesamtschuldnerischen Nachhaftung) fehlerhaft gewesen war. Mit Schreiben vom 30.07.2014 widersprach die Klägerin gegenüber der Beklagten dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses auf die V. und bot ihre Arbeitsleistung an.
Mit Klage vom 11.11.2014 beantragte sie festzustellen, dass zwischen den Parteien über den 01.09.2007 hinaus ein Arbeitsverhältnis besteht. Zur Begründung hat die Klägerin unter Verweis auf das Urteil des BAG vom 26.05.2011 ausgeführt, die sie betreffende damalige Unterrichtung vom 26.07.2007 über den Betriebsübergang sei fehlerhaft gewesen. Das ArbG Regensburg hatte dem Klageantrag entsprochen.
Auf die Berufung der Beklagten hat das LArbG München die Klage abgewiesen, allerdings für die Klägerin die Revision zugelassen. Die eingelegte Revision wird beim BAG unter dem Aktenzeichen 8 AZR 265/16 geführt.
Das LArbG München stellt zur Begründung fest, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin am 01.09.2007 aufgrund eines Betriebsübergangs gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB von der Beklagten auf die V. übergegangen ist. Zwar sei das Widerspruchsrecht der Klägerin nicht verfristet gewesen, als es von ihr am 30.07.2014 ausgeübt wurde; denn die Unterrichtung der Klägerin vom 26.07.2007 habe nicht den gesetzlichen Anforderungen des § 613a Abs. 5 BGB entsprochen und infolgedessen die Monatsfrist zum Widerspruch nach § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB nicht in Gang gesetzt.
Jedoch geht das Landesarbeitsgericht des Weiteren davon aus, dass das Widerspruchsrecht wegen Verwirkung zum Zeitpunkt seiner Ausübung ausgeschlossen war. Denn die Klägerin habe über einen sehr langen Zeitraum ihr Recht nicht geltend gemacht (Zeitmoment) und sei unter Umständen untätig geblieben, die den Eindruck erweckten, dass sie ihr Recht nicht mehr geltend machen wolle, so dass die Beklagte sich darauf einstellen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden (Umstandsmoment). Dabei sei in einer Gesamtbetrachtung die Länge des Zeitablaufs in Wechselwirkung zu dem ebenfalls erforderlichen Umstandsmoment zu setzen. Je mehr Zeit seit dem Stichtag des Betriebsübergangs verstrichen sei und je länger die Klägerin bereits für die V. gearbeitet habe, desto geringer seien die Anforderungen an das Umstandsmoment.
Nachdem zwischen der fehlerhaften Unterrichtung und der Erklärung des Widerspruchs sieben Jahre vergangen waren, hat das Landesarbeitsgericht ein besonders schwerwiegend verwirklichtes Zeitmoment angenommen. In Anbetracht dieser langen Zeitspanne widerspruchsloser Weiterarbeit hat das Landesarbeitsgericht dann für die Verwirklichung des Umstandsmoments darauf abgestellt, dass auch im Bereich der Verwirkung einem langjährigen bloßen Schweigen eine Erklärungswirkung beigemessen werden könne, die im vorliegenden Falle bei der Beklagten – bei objektiver Betrachtung – zu einem Vertrauen habe führen dürfen, die Klägerin werde ihr Widerspruchsrecht nicht mehr ausüben.
Dieses Vertrauen der Beklagten werde durch weitere Aspekte bestärkt: Auch noch nach dem erwähnten Urteil des BAG vom 26.05.2011 habe die Klägerin rund drei Jahre lang ihr Arbeitsverhältnis mit der V. ohne Vorbehalt und widerspruchslos fortgeführt. Zudem habe zwischen dem Fehler in der Unterrichtung (hinsichtlich haftungsrechtlicher Fragen) und dem Widerspruch sieben Jahre später kein inhaltlicher Zusammenhang mehr bestanden; dies dürfe im Rahmen der Prüfung des Umstandsmoments berücksichtigt werden. Schließlich könne die im Arbeitsrechts geltende regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren (§ 195 BGB) auch nicht gänzlich ausgeblendet werden.
C. Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung des LArbG München ist in folgendem Zusammenhang zu sehen:
I. Zu einer ordnungsgemäßen Unterrichtung gemäß § 613a Abs. 5 BGB gehört auch der Hinweis auf das Haftungssystem, welches sich aus der Regelung in § 613a Abs. 2 BGB ergibt. Nur die vollständige Darstellung des Haftungssystems versetzt die Arbeitnehmer in die Lage, gegebenenfalls näheren Rechtsrat einzuholen, wer in welchem Umfange für welche Ansprüche haftet (BAG, Urt. v. 23.07.2009 – 8 AZR 538/08 – NZA 2010, 89).
II. Ist die Unterrichtung fehlerhaft oder unvollständig, beginnt die einmonatige Widerspruchsfrist nach § 613a Abs. 6 BGB nicht zu laufen (BAG, Urt. v. 15.03.2012 – 8 AZR 700/10 – NZA 2012, 1097).
III. Das Widerspruchsrecht kann aber wegen Verwirkung ausgeschlossen sein. Jedes Recht kann nur unter Berücksichtigung der Grundsätze von Treu und Glauben ausgeübt werden. Das Rechtsinstitut der Verwirkung beruht auf dem Gedanken des Vertrauensschutzes (§ 242 BGB) und dient dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Das Widerspruchsrecht muss den Arbeitnehmern nicht unbegrenzt, sondern nur so lange erhalten bleiben, wie es für eine effektive und verhältnismäßige Sanktionierung des Unterrichtungsfehlers geboten ist (BAG, Urt. v. 17.10.2013 – 8 AZR 974/12 – NZA 2014, 774; Boigs, jurisPR-ArbR 18/2014 Anm. 1).
IV. Die Verwirkung tritt ein, wenn der Inhaber des Rechts ein Zeitmoment und ein Umstandsmoment verwirklicht hat. Dabei beeinflussen sich Zeitmoment und Umstandsmoment wechselseitig, d.h. beide Elemente sind bildhaft im Sinne „kommunizierender Röhren“ miteinander verbunden. Je stärker das gesetzte Vertrauen oder die Umstände, die eine Geltendmachung für den Anspruchsgegner unzumutbar machen, sind, desto schneller kann ein Anspruch verwirken. Umgekehrt gilt, je mehr Zeit seit dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs verstrichen ist und je länger der Arbeitnehmer bereits für den Erwerber gearbeitet hat, desto geringer sind die Anforderungen an das Umstandsmoment (BAG, Urt. v. 22.06.2011 – 8 AZR 752/09; Boigs, jurisPR-ArbR 43/2011 Anm. 3).
V. Das Zeitmoment ist im vorliegenden Fall unkritisch. In der Rechtsprechung des BAG finden sich zur Erfüllung des Zeitmoments beispielsweise Zeiträume von sechs oder neun oder 15 Monaten. Bei einem Zeitablauf von sechseinhalb Jahren hat das BAG ein besonders schwerwiegend verwirklichtes Zeitmoment angenommen (BAG, Urt. v. 15.03.2012 – 8 AZR 700/10 – NZA 2012, 1097).
VI. Die Bedeutung der Entscheidung liegt in der Annahme des Umstandsmoments.
1. Für die Erfüllung des Umstandsmoments verlangt das BAG regelmäßig eine Disposition des Arbeitnehmers über den Bestand seines Arbeitsverhältnisses gegenüber dem Betriebserwerber. Eine solche Disposition liege dann vor, wenn der Arbeitnehmer in Gänze über sein Arbeitsverhältnis verfüge oder es auf eine völlig neue rechtliche Grundlage stelle. Dies sei z.B. bei dem Abschluss eines Aufhebungsvertrages oder der Hinnahme einer vom Betriebserwerber ausgesprochenen Kündigung oder der Vereinbarung eines Altersteilzeitvertrages der Fall. Allein der Umstand, dass der Arbeitnehmer widerspruchslos beim Betriebserwerber weiterarbeite und von diesem die Arbeitsvergütung entgegennehme, stelle ebenso wenig eine Disposition über den Bestand des Arbeitsverhältnisses dar wie Vereinbarungen mit dem Betriebserwerber, durch welche einzelne Arbeitsbedingungen, z.B. Art und Umfang der zu erbringenden Arbeitsleistung, Höhe der Arbeitsvergütung, geändert würden (BAG, Urt. v. 23.07.2009 – 8 AZR 357/08 – NZA 2010, 393).
2. Unter Berufung auf diese Rechtsprechung des BAG hat jüngst das LArbG Halle eine Verwirkung bei mehr als fünfjähriger Weiterarbeit verneint (LArbG Halle, Urt. v. 01.09.2015 – 6 Sa 221/14; Aktenzeichen der Revision beim BAG: 8 AZR 612/15).
3. Das LArbG München geht einen Schritt weiter und misst auch dem bloßen Schweigen oder Untätigbleiben eine (im Zivilrecht durchaus anerkannte) Erklärungswirkung zu (Ellenberger in: Palandt, BGB, 74. Aufl. 2015, Einf. v. § 115 Rn. 10; Schubert in: MünchKomm BGB, 7. Aufl. 2016, § 242 Rn. 384). Dabei betont das Landesarbeitsgericht, dass dadurch die Prüfung nicht auf das bloße Zeitmoment reduziert werde, sondern ausschlaggebend sei, ob die Berechtigte (die Klägerin) unter Umständen untätig geblieben sei, die bei der Verpflichteten (der Beklagten) bei objektiver Betrachtung zu einem Vertrauen haben führen dürfen, das Recht werde nicht mehr ausgeübt.
4. Das Landesarbeitsgericht beruft sich in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des Neunten Senats des BAG, der im Rahmen einer Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit einer Versetzung das Umstandsmoment bei einer nahezu zweijährigen widerspruchslosen Kooperation des Klägers angenommen hat. Das Verhalten des Klägers – so der Neunte Senat – sei für die Beklagte ein unmissverständliches Zeichen dafür gewesen, dass er die personelle Entscheidung hingenommen habe und diese nicht mehr angreifen werde. Im Übrigen komme es für das Umstandsmoment nicht auf die Motive des Gläubigers an, weshalb er (mögliche) Rechte nicht wahrnehme, sondern darauf, wie sein Verhalten vom Schuldner aufgefasst werden dürfe (BAG, Urt. v. 12.12.2006 – 9 AZR 747/06 – NZA 2007, 396).
5. Tendenziell kann auch die Entscheidung des Achten Senats des BAG vom 22.06.2011 (8 AZR 752/09; Boigs, jurisPR-ArbR 43/2011 Anm. 3) herangezogen werden. Der Senat hat in dieser Entscheidung das Umstandsmoment bejaht. Die damalige Klägerin hatte zwar zeitnah zum Betriebsübergang schriftlich auf die fehlerhafte Unterrichtung hingewiesen, in Folge aber zweieinhalb Jahre widerspruchslos weitergearbeitet. Dann wurde sie über die in sechs Monaten beabsichtigte Stilllegung des Unternehmens informiert. Auch danach arbeitete sie zunächst vier Monate weiter, bis sie dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses von vor nunmehr fast drei Jahren widersprach.
6. Auch in der jüngsten Literatur wird die Frage angesprochen, ob die „bloße“ Weiterarbeit tatsächlich mit einem reinen Zeitablauf zu vergleichen sei. Denn die tägliche Arbeit, d.h. jeder weitere Arbeitstag, führe sukzessive zu einer Anerkennung des neuen Arbeitgebers (des Betriebserwerbers), ohne dass ein darüber hinausgehendes aktives Verhalten erforderlich sei. Damit verfestige sich die Annahme, der Arbeitnehmer werde bei seinem neuen Arbeitgeber bleiben (Steffan, NZA 2016, 608, 611).
D. Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung des LArbG München ist eine logische Fortentwicklung der Rechtsprechung. Die Argumentation dürfte von der Praxis begrüßt werden.
Da § 613a Abs. 6 BGB keine Höchstfrist vorsieht, liefe es faktisch auf ein zeitlich unbegrenztes Widerspruchsrecht hinaus, wenn die bloße widerspruchslose Weiterarbeit unabhängig von deren Dauer unter keinen Umständen als Umstandsmoment in Betracht käme. Auch das notwendige Korrektiv der Verwirkung liefe ins Leere. Irgendwann wird man auch bei bloßer widerspruchsloser Weiterarbeit sagen müssen, die beteiligten Arbeitgeber durften sich bei objektiver Betrachtung darauf einstellen und darauf vertrauen, ein gegebenenfalls bestehendes Widerspruchsrecht werde nicht mehr ausgeübt.
Diese Interessenlage betrifft den ursprünglichen Betriebsinhaber gleichermaßen wie den Betriebsübernehmer. Von den vom Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmern wird nichts Unzumutbares verlangt. Für sie geht es darum, sich in angemessener Frist endgültig zu entscheiden, ob sie den Betriebserwerber als neuen Arbeitgeber akzeptieren oder das Widerspruchsrecht ausüben wollen.
Mit Spannung wird also die Entscheidung des BAG im Revisionsverfahren erwartet. Die Praxis braucht eine interessengerechte und praktikable Lösung.