Nachfolgend ein Beitrag vom 21.09.2016 von Boemke, jurisPR-ArbR 38/2016 Anm. 3

Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Der Anspruch auf Mindestlohn wird durch Zahlung von Arbeitsentgelt erfüllt. Maßgeblich ist insoweit, ob die Geldleistung ihrem Zweck nach diejenige Arbeitsleistung entlohnt, die mit dem gesetzlichen Mindestlohn vergütet werden soll.
2. Zu berücksichtigen ist stets das monatliche Grundgehalt.
3. Im vorliegenden Fall waren auch umsatzabhängige Provision sowie das Entgelt für Nähleistungen auf den gesetzlichen Mindestlohn anzurechnen, nicht aber Zahlungen für Rückläufer, Urlaubsgeld und der Arbeitgeberbeitrag zu vermögenswirksamen Leistungen.

A. Problemstellung

Seit dem Inkrafttreten des MiLoG zum 01.01.2015 haben sich zahlreiche Arbeitsgerichte mit der Frage beschäftigt, welche Zahlungen der Arbeitgeberin auf den Mindestlohn angerechnet werden können. Schon im Mai 2016 konnte sich das BAG zu dieser Frage erstmals äußern, wobei es im Wesentlichen seine Rechtsprechung zum AEntG bestätigt hat. Einen Tag vor der BAG-Entscheidung hat sich das LArbG Chemnitz positioniert, wobei es im konkreten Fall um die Anrechnung zahlreicher Lohnbestandteile auf den Mindestlohn ging.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

I. Die Parteien streiten im Rahmen einer Zahlungsklage der bei der Beklagten als Verkäuferin beschäftigten Klägerin über die Anrechnung verschiedener Vergütungsbestandteile auf den Mindestlohn. Im Einzelnen geht es um:
1. Monatliche Provisionen für von der Klägerin erzielte Verkäufe.
2. Entgelt für Nähleistungen, welche die Klägerin während der Arbeitszeit zusätzlich zur Verkaufstätigkeit erbrachte.
3. Urlaubsgeld nach dem Tarifvertrag, das fällig wird, wenn die Arbeitnehmerin mindestens die Hälfte des tariflichen Jahresurlaubs genommen hat.
4. Prämien für die Einlösung von Rabattkarten durch Kundinnen (sog. Rückläufer), die innerhalb und außerhalb der Arbeitszeit an diese ausgegeben werden.
5. Arbeitgeberinnenanteil zu den vermögenswirksamen Leistungen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage zum Teil stattgegeben und neben dem Grundlohn auch die Umsatzprovision und den Erlös für die Rückläufer auf den Mindestlohn angerechnet. Auf die Berufung beider Seiten hat das Landesarbeitsgericht die Entscheidung teilweise geändert und dabei als Zahlungen auf den Mindestlohn neben dem Grundlohn auch die Umsatzprovision sowie das Entgelt für Nähleistungen, nicht aber die sonstigen Zahlungen berücksichtigt.
II. 1. Die 3. Kammer legt zunächst allgemein dar, dass der auf eine Zeitstunde bezogene Mindestlohnanspruch andere Vergütungsformen, insbesondere Provisionen und andere leistungsbezogene Vergütungen, nicht verbiete, so dass z. B. die Vereinbarung von Stück- und Akkordlöhnen weiterhin zulässig bleibe (vgl. BT-Drs. 18/1558, S. 40). Ein nicht auf Stunden bezogener Zeitlohn müsse umgerechnet werden, wobei die Summe der berücksichtigungsfähigen Vergütungsbestandteile geteilt durch die regelmäßige monatliche Arbeitszeit des Arbeitnehmers einen Betrag ergeben muss, der mindestens einem Stundenlohn von 8,50 Euro brutto entspricht (vgl. Franzen in: ErfKomm, 16. Aufl., § 1 MiLoG Rn. 8). Die Parteien gingen insoweit zutreffend übereinstimmend davon aus, dass die Summe der berücksichtigungsfähigen Entgeltbestandteile monatlich 1.436,50 Euro brutto betragen müsse (= 39 Stunden x 8,50 Euro brutto x 13 Wochen : 3 Monate). Im Gesetz sei nicht geregelt, welche Zahlungen berücksichtigt werden könnten. Herangezogen werden könne die Rechtsprechung des EuGH zur Arbeitnehmerentsenderichtlinie 96/71/EG (z.B. EuGH, Urt. v. 07.11.2013 – C-522/12 „Tevfik Isbir/DB Services GmbH“) und des BAG zum AEntG (z.B. BAG, Urt. v. 16.04.2014 – 4 AZR 802/11). Danach kann der Mindestlohnanspruch grundsätzlich entsprechend § 362 Abs. 1 BGB durch Zahlung von Arbeitsentgelt jedweder Art erfüllt werden. Maßgeblich ist, ob die vom Arbeitgeber erbrachte Leistung ihrem Zweck nach diejenige Arbeitsleistung des Arbeitnehmers entlohnt, die mit dem gesetzlichen Mindestlohn vergütet werden soll. Für diese Bestimmung ist der subjektive Wille des Arbeitgebers jedenfalls dann nicht entscheidend, wenn die Leistung nach einer an anderer Stelle als im Mindestlohngesetz getroffenen Regelung erfolgt und sich ihre Funktion aus dieser Regelung ergibt. Zahlt der Arbeitgeber allerdings einen Zuschlag, weil die Arbeitsleistung besonders schwierig ist oder unter erschwerten Bedingungen erfolgt, ist dieser Zuschlag gleichwohl auf den Mindestentgeltanspruch anzurechnen, soweit das MiLoG diese Tätigkeit nicht als zuschlagspflichtig ansieht, sondern sie als im Rahmen der mit dem Grundentgelt abzugeltenden „Normaltätigkeit“ bewertet.
2. a) Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Grundsätze hat das LArbG Chemnitz nicht nur den Grundlohn, sondern auch die Umsatzprovision als berücksichtigungsfähig angesehen. Entscheidend spreche dafür, dass mit der Umsatzprovision auch die Arbeitsleistung der Klägerin vergütet werden solle.
b) Das Entgelt für Nähleistungen sei jedenfalls im Monat der Auszahlung anrechenbar. Dieses sei eine zum Mindestlohn funktional gleichwertige Leistung, weil die Nähleistungen zur „Normaltätigkeit“ der Klägerin gehörten. Ob Nähleistungen im Allgemeinen zum Berufsbild der Verkäuferin gehörten, sei unerheblich. Im konkreten Fall seien diese Bestandteil der Normalleistung der Klägerin. Diese erbringe die Nähleistungen in ihrer vertraglich vereinbarten Arbeitszeit und nicht zusätzlich. Zudem fielen die Näharbeiten, die zusätzlich vergütet werden, regelmäßig an. Der Umstand, dass die Nähprämien nur einmal im Quartal ausgezahlt werden, stehe der Anrechenbarkeit zumindest im Auszahlungsmonat nicht entgegen.
c) Das Urlaubsgeld soll nach Ansicht der 3. Kammer des LArbG Chemnitz nicht angerechnet werden können, weil Anknüpfungspunkt für diese zusätzliche Leistung nicht die Arbeitsleistung der Klägerin, sondern die Inanspruchnahme von Urlaub sei. Das zusätzliche Urlaubsgeld werde für die Nichtarbeit und nicht – wie für Lohn vorausgesetzt – für die Arbeit gezahlt.
d) Hinsichtlich der Zahlungen für Rückläufer geht die 3. Kammer des LArbG Chemnitz im Grundsatz davon aus, dass die Ausgabe von Rabattkarten zu der „Normalleistung“ der Klägerin gehöre, so dass die Vergütung für die Rückläufer eine Gegenleistung für die Arbeit sei. Allerdings weise der vorliegende Fall die Besonderheit auf, dass die Rabattkarten vereinbarungsgemäß von der Klägerin auch außerhalb ihrer Arbeitszeit verteilt wurden. Mit dem Entgelt für „Rückläufer“ werden somit sowohl die „Normalleistung“ als auch darüber hinausgehende Leistungen vergütet. Da die Beklagte die Leistungen für „Rückläufer“ unterschiedslos erbringt und somit nicht erkennbar sei, welcher Teil auf die „Normalleistung“ der Klägerin entfällt, dürfe das Entgelt für „Rückläufer“ insgesamt nicht auf den Mindestlohn angerechnet werden.
e) Auch die vermögenswirksamen Leistungen könnten nicht angerechnet werden, weil diese keinen unmittelbaren Bezug zur Arbeitsleistung hätten. Diese stellen daher – wie schon der EuGH entschieden habe (EuGH, Urt. v. 07.11.2013 – C-522/12 Rn. 44 „Tevfik Isbir/DB Services GmbH“) – keinen Lohn im eigentlichen Sinne dar.
3. Auf Grundlage dieser Rechtsgrundsätze berechnete die 3. Kammer sodann die auf den Mindestlohnanspruch anzurechnenden Zahlungen für die Monate 01.-09.2015 sowie die Höhe der offenen Lohnansprüche für diesen Zeitraum.

C. Kontext der Entscheidung

I. Die Entscheidung der 3. Kammer des LArbG Chemnitz erging genau einen Tag vor der ersten Entscheidung des BAG zur Anrechnung von Zulagen und sonstigen Zahlungen auf den gesetzlichen Mindestlohnanspruch nach § 1 MiLoG (BAG, Urt. v. 25.05.2016 – 5 AZR 135/16). Die Entscheidung liegt zwar noch nicht mit Urteilsgründen vor (Stand: 05.09.2016); in der Pressemitteilung (Nr. 24/16) ist aber das wesentliche Prinzip für die Antwort auf die Frage nach einer Anrechnung dargetan worden. Der Arbeitgeber „erfüllt den Anspruch durch die im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis als Gegenleistung für Arbeit erbrachten Entgeltzahlungen, soweit diese dem Arbeitnehmer endgültig verbleiben. Die Erfüllungswirkung fehlt nur solchen Zahlungen, die der Arbeitgeber ohne Rücksicht auf tatsächliche Arbeitsleistung des Arbeitnehmers erbringt oder die auf einer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung (zB § 6 Abs. 5 ArbZG) beruhen.“
Damit dürfte für das nationale Recht klargestellt sein, dass sämtliche Zahlungen der Arbeitgeberin grundsätzlich auf den Mindestlohn angerechnet werden können, unabhängig davon, ob diese für die sog. Normalleistung (dazu Boemke, jurisPR-ArbR 29/2015 Anm. 6, unter C I 4) oder darüber hinausgehende Leistungen erbracht werden (Bayreuther, NZA 2014, 865, 868 f.; Boemke, JuS 2015, 385, 391; Hanau/Bepler, Ausschuss-Drs. 18(11)148, S. 142, 143; Jares, DB 2015, 307, 308 f.; Schweibert/Leßmann, DB 2014, 1866, 1869; a.A. Begründung zum REgE, BT-Drs. 18/1558, S. 67; Berndt, DStR 2014, 1878; Brors, NZA 2014, 938, 940; Däubler, NJW 2014, 1924, 1926; Jöris/von Steinau-Steinrück, BB 2014, 2101, 2103; Riechert/Nimmerjahn, MiLoG, 1. Aufl. 2015, § 1 Rn. 119; Schubert/Jerchel/Düwell, Das neue Mindestlohngesetz, Rn. 140; Ulber, RdA 2014, 176, 181). Schmutz- (Boemke, JuS 2015, 385, 391; Lembke, NZA 2015, 70, 76; Moll/Päßler/Reich, MDR 2015, 125, 127; Sittard in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht, 7. Aufl. 2016, § 1 MiLoG Rn. 19; Wagner, NZA-RR 2015, 408, 409; a.A. BReg. BT-Drs. 18/1558, S. 84; Lindemann/Kafka, DB 2015, 1664, 1665; Preis/Lukes, ArbRB 2015, 153, 155), Erschwernis- (Boemke, JuS 2015, 385, 391; Lembke, NZA 2015, 70, 76; Sittard in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht, § 1 MiLoG Rn. 19; a.A. Lindemann /Kafka, DB 2015, 1664, 1665; Preis/Lukes, ArbRB 2015, 153, 155) und Spätschichtzulagen (BAG, Urt. v. 16.04.2014 – 4 AZR 802/11, zum AEntG; LArbG Chemnitz v. 24.09.2015 – 8 Sa 153/15 Rn. 65, und LArbG Chemnitz v. 13.04.2016 – 8 Sa 657/15 Rn. 47, jeweils zum TV Mindestbedingungen für die Fleischwirtschaft; Boemke, JuS 2015, 385, 391; Lembke, NZA 2015, 70, 76; Moll/Päßler/Reich, MDR 2015, 125, 127; Sittard in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht, § 1 MiLoG Rn. 19; Wagner, NZA-RR 2015, 408, 409; a.A. LArbG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 07.04.2016 – 10 Sa 2139/15 Ls.; Lindemann /Kafka, DB 2015, 1664, 1665; Preis/Lukes, ArbRB 2015, 153, 155) sind danach auf den Mindestlohn anzurechnen. Die „Höhe des Mindestlohns beträgt ab dem 1. Januar 2015 brutto 8,50 Euro je Zeitstunde“ (§ 1 Abs. 2 MiLoG). „Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat Anspruch auf Zahlung eines Arbeitsentgelts mindestens in Höhe des Mindestlohns durch den Arbeitgeber“ (§ 1 Abs. 1 MiLoG) bzw. die Arbeitgeberin (bei der Nichterwähnung der Arbeitgeberin handelt es sich leider nicht um ein Redaktionsversehen, sondern um eine gender-semantische Insuffizienz des Gesetzgebers). Die Höhe des Mindestlohns bezieht sich auf die Zeit- und damit die Arbeitsstunde; der Mindestlohnanspruch wird erfüllt durch die Zahlung des Arbeitsentgelts als Gegenleistung für die Erbringung der Arbeitsleistung. Die Höhe des Mindestlohns nach dem MiLoG ist also völlig unabhängig von der Art der geschuldeten bzw. geleisteten Arbeit sowie den Bedingungen, unter denen diese erbracht wird (BAG v. 16.04.2014 – 4 AZR 802/11 Rn. 49, zum AEntG; Boemke, jurisPR-ArbR 29/2015 Anm. 6, unter C I).
II. Auf dieser Grundlage ist der 3. Kammer des LArbG Chemnitz bezüglich der Anrechnungsfähigkeit bestimmter Zulagen dem Grunde nach zu folgen. Zweifelhaft ist aber, ob Zulagen, die in einem bestimmten Zeitabschnitt erarbeitet wurden, auf den Mindestlohnanspruch für andere Zeitabschnitte angerechnet werden können. Dazu im Einzelnen:
1. a) Erbringt eine Verkäuferin während ihrer Arbeitszeit Nähleistungen und werden diese provisionsabhängig vergütet, dann sind diese Zahlungen mindestlohnrelevant (für Anrechnung von Provisionen: ArbG Düsseldorf, Urt. v. 20.04.2015 – 5 Ca 1675/15 Rn. 30; ArbG Frankfurt v. 16.12.2015 – 9 Ca 5624/15 Rn. 37 ff.; Bayreuther, NZA 2014, 865, 868; Greiner in: BeckOK-ArbR, 40. Ed. Stand: 03.2016, § 1 MiLoG Rn. 52 f.; Nebel/Kloster, BB 2014, 2933, 2935 f.; Riechert/Nimmerjahn, MiLoG, 1. Aufl. 2015, § 1 Rn. 136; Sittard in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht, § 1 MiLoG Rn. 20; Sittard, RdA 2015, 99, 104).
b) Soweit die 3. Kammer des Landesarbeitsgerichts allerdings ausführt, dass die nur quartalsweise Auszahlung der Nähprämien einer Anrechenbarkeit dann nicht entgegensteht, wenn diese sich auf den Auszahlungsmonat beschränkt, ist dem in dieser Allgemeinheit nicht zu folgen (vgl. auch Spielberger/Schilling, NJW 2014, 2897, 2899; für Vier-Monats-Zeitraum Franzen in: ErfKomm, § 1 MiLoG Rn. 10, unter Hinweis auf § 87c Abs. 1 Satz 1 HS. 2 und Satz 2 HGB). Um dies an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen: Mit der Arbeitnehmerin möge ein Grundstundenlohn von 8,00 Euro bei einer Arbeitszeit von 100 Std./Monat vereinbart worden sein. Zusätzlich werden Nähprämien gezahlt, die im Schnitt 0,75 Euro/Stunde betragen und jeweils mit der Vergütung eines letzten Quartalsmonats ausgezahlt werden. Die Arbeitnehmerin erzielt also im Durchschnitt 8,75 Euro/Std. bzw. 875 Euro/Monat. Dabei werden allerdings als Lohn für die ersten beiden Quartalsmonate nur 800 Euro, für den letzten Quartalsmonat hingegen 1.025 Euro ausgezahlt. In den Monaten April und Mai möge die Arbeitnehmerin die durchschnittlichen, im Juni aber überhaupt keine Nähleistungen erbracht haben. Aus welchem Grund sollten nun Lohnansprüche, welche die Arbeitnehmerin in den Monaten April und Mai erworben hat, auf den Mindestlohnanspruch für den Monat Juni angerechnet werden? Umgekehrt stellt sich aber auch die Frage, weswegen die „verspätete“ Auszahlung der im April und Mai zusätzlich erworbenen Lohnansprüche (je 75 Euro/Monat für Nähleistungen) dazu führen soll, dass eine Anrechnung auf den Mindestlohanspruch entfällt. Das Gesetz kennt die Unterscheidung zwischen Nicht- und verspäteter Zahlung; für den Bereich des Mindestlohns macht dies die Bußgeldvorschrift des § 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG deutlich. Dies bedeutet, dass die für einen bestimmten Zeitraum erbrachten Lohnzahlungen auch dann auf den Mindestlohn anzurechnen sind, wenn diese verspätet erfolgen. Für den Bereich der Jahressonderzahlungen habe ich dies bereits an anderer Stelle nachgewiesen (Boemke, JuS 2015, 385, 391). Greiner hat dies überzeugend wie folgt begründet:
„Einer verspäteten Leistung wegen ihrer Verspätung die Erfüllungstauglichkeit abzusprechen, wäre ein Novum und ein Fremdkörper im deutschen Zivilrecht. Anderes könnte nur begründbar sein, wenn man dem Mindestlohnanspruch den Charakter einer absoluten Fixschuld zumessen würde. Es kann aber hier keine Rede davon sein, dass der Sinn und Zweck der Leistung mit ihrer Rechtzeitigkeit steht und fällt“ (Greiner in: BeckOK-ArbR, 40. Ed. Stand: 03.2016, § 1 MiLoG Rn. 67). Dementsprechend möchte Greiner bei der Anrechenbarkeit von Provisionen „nicht entscheidend auf den Auszahlungszeitpunkt der erfolgsabhängigen Vergütung“ abstellen (Greiner in: BeckOK-ArbR, 40. Ed. Stand: 03.2016, § 1 MiLoG Rn. 55). Allein dies entspricht der Rechtsprechung des EuGH, wonach der Umstand, dass Zahlungen „außerhalb des Zeitraums erfolgt <sind>, für den sie die Leistung der betreffenden Arbeitnehmer entgelten sollten … sich … nicht auf ihre Einstufung … als Gegenleistung für die Arbeit“ auswirkt (EuGH v. 07.11.2013 – C-522/12 Rn. 42). Auch die Ausführungen in der Pressemitteilung Nr. 24/16 des BAG zur Entscheidung vom 25.05.2016 – 5 AZR 135/16 – können in diesem Sinne fruchtbar gemacht werden. In der Pressemitteilung ist wörtlich ausgeführt:
„Der gesetzliche Mindestlohn tritt als eigenständiger Anspruch neben die bisherigen Anspruchsgrundlagen, verändert diese aber nicht.“
Danach ist lediglich zu betrachten, ob der vereinbarte Lohanspruch den Mindestlohnanspruch erreicht, nicht aber, ob der gesetzliche Mindestlohn fristgerecht mit der Folge ausgezahlt wurde, dass verspäteten Zahlungen keine Erfüllungswirkung mehr zukommt.
Hinsichtlich der Anrechnung übersieht die 3. Kammer des LArbG Chemnitz auch die generelle Frage, für welchen Zeitraum die Betrachtung, ob der Mindestlohnanspruch erfüllt wurde, anzustellen ist. Kommt es im Rahmen einer generalisierenden Betrachtung auf den Durchschnittsverdienst im Kalendermonat bzw. unter Rückgriff auf § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MiLOG auf einen fast Zwei-Monats-Zeitraum an oder spricht der Gesetzeswortlaut, wonach der Arbeitnehmer einen Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde verlangen kann, sowie die Begründung zum RegE (BT-Drs. 18/1558, S. 34) für eine konkret-individuelle und auf die Zeitstunde bezogene Betrachtung (vgl. Boemke, jurisPR-ArbR 29/2015 Anm. 6, unter C II).
2. Das BAG hatte am 25.05.2016 (5 AZR 135/16) entschieden, dass Urlaubsgeld auf den Mindestlohnanspruch angerechnet werden kann (befürwortend Begründung zum RegE, BT-Drs. 18/1558, S. 67; LArbG Berlin-Brandenburg v. 04.02.2016 – 18 Sa 1845/15 Rn. 129 f.; LArbG Hamm v. 14.01.2016 – 18 Sa 1279/15 Rn. 42 ff.; ArbG Stuttgart v. 10.03.2016 – 11 Ca 6834/15 Rn. 42; Boemke, JuS 2015, 385, 391; Franzen in: ErfKomm, § 1 MiLoG Rn. 15 f.; Greiner in: BeckOK-ArbR, § 1 MiLoG Rn. 38a; Sittard in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht, § 1 MiLoG Rn. 18; a.A. ArbG Bautzen v. 25.06.2015 – 1 Ca 1094/15 Rn. 22; ArbG Berlin v. 04.03.2015 – 54 Ca 14420/14 Rn. 52 f.; Jares, DB 2015, 307, 309 f.; Lindemann/Kafka, DB 2015, 1664, 1665; Schubert/Jerchel/Düwell, Das neue Mindestlohngesetz, Rn. 140; Ulber, RdA 2014, 176, 181). Hierzu steht die Entscheidung der 3. Kammer nicht in Widerspruch. Anrechenbar ist nämlich nach der Rechtsprechung des BAG nur Urlaubsgeld, das als Gegenleistung für erbrachte Arbeitsleistung gezahlt wird. Wird Urlaubsgeld hingegen aus sonstigen Gründen gezahlt, z.B. für die Inanspruchnahme von Urlaub, muss eine Anrechnung ausscheiden (ArbG Dresden v. 09.02.2016 – 1 Ca 2744/15 Rn. 50; LArbG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 02.10.2015 – 9 Sa 570/15 Rn. 42; Boemke, JuS 2015, 385, 391; Riechert/Nimmerjahn, MiLoG, 1. Aufl. 2015, § 1 Rn. 139; a.A. Franzen in: ErfKomm, § 1 MiLoG Rn. 15 f.; Sittard in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht, § 1 MiLoG Rn. 18). Maßgeblich ist dabei nicht die Bezeichnung (falsa demonstratio non nocet, dies verkennt Ulber, RdA 2014, 176, 181), sondern der Leistungszweck.
3. Das für die Rückläufer gezahlte Geld stellt der Sache nach eine Provision dar, die – wird sie als Gegenleistung für die Arbeitsleistung gezahlt – auf den Mindestlohnanspruch angerechnet werden kann (vgl. oben C II 1 a). Insoweit differenziert die 3. Kammer des LArbG Chemnitz zu Recht zwischen den Zahlungen, die sich auf die während der Arbeitszeit ausgeteilten Rabattkarten beziehen, und denjenigen, die Rückläufer vergüten sollen, die außerhalb der Arbeitszeit verteilt wurden. Letztere entlohnen nicht die Arbeitsleistung und können daher nicht auf den Mindestlohn angerechnet werden. Kann keine Unterscheidung getroffen werden, muss – auch insoweit möchte ich dem LArbG Chemnitz folgen – eine Anrechnung ausscheiden. Selbst wenn sämtliche Rückläufer während der Arbeitszeit verteilt wurden, stellt sich die Frage, ob die Lohnansprüche für die in einem Zeitraum verteilten Rückläufer auf Mindestlohnansprüche anderer Zeiträume angerechnet werden können und, wenn ja, wie diese Zeiträume (Stunde, Lohnzahlungsperiode, § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MiLoG) zu bemessen sind (vgl. dazu oben C II 1 b).
4. Hinsichtlich des Arbeitgeberinnenanteils zu den vermögenswirksamen Leistungen kann sich die 3. Kammer des LArbG Chemnitz auf die Entscheidung des EuGH beziehen, wonach sich „vermögenswirksame Leistungen wie der Beitrag, den der Arbeitgeber zu einem mehrjährigen Sparplan für seine Beschäftigten leistet, vom Lohn im eigentlichen Sinne [unterscheiden] und können für die Anwendung der Richtlinie 96/71 nicht als Komponente des üblichen Verhältnisses zwischen der Arbeitsleistung und der hierfür vom Arbeitgeber zu erbringenden finanziellen Gegenleistung angesehen werden“ (EuGH, Urt. v. 07.11.2013 – C-522/12 Ls. 3). Die vom EuGH dazu gegebene Begründung überzeugt allerdings weniger, wonach „vermögenswirksame Leistungen … durch die Bildung von Vermögen, in dessen Genuss der Arbeitnehmer binnen einer mehr oder weniger langen Frist kommen wird, darauf ab[zielen], ein u.a. durch einen finanziellen Beitrag der öffentlichen Hand gefördertes sozialpolitisches Ziel zu verwirklichen“. Auch das BAG stellt maßgeblich darauf ab, dass die vermögenswirksamen Leistungen der Arbeitnehmerin „nicht zur freien Verfügung [stehen], sondern … zwingend langfristig anzulegen“ sind. „Die vermögenswirksamen Leistungen sind danach unter nationalrechtlichen Gesichtspunkten nicht ‚funktional gleichwertig‘ mit dem vom Arbeitgeber zu entrichtenden Mindestlohn“ (BAG v. 16.04.2014 – 4 AZR 802/11 Rn. 61; Däubler, NJW 2014, 1924, 1927; Franzen in: ErfKomm, § 1 MiLoG Rn. 17; Lembke, NZA 2015, 70, 75; Lindemann/Kafka, DB 2015, 1664, 1665; Preis/Lukes, ArbRB 2015, 153, 155; Bayreuther, NZA 2014, 865, 868; Riechert/Nimmerjahn, MiLoG, § 1 Rn. 153; Schubert/Jerchel/Düwell, Das neue Mindestlohngesetz, Rn. 140; Sittard in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht, § 1 MiLoG Rn. 24; Ulber, RdA 2014, 176, 181; für Anrechnung noch LArbG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 01.09.2011 – 25 Sa 131/11, 25 Sa 151/11, 25 Sa 131/11, 25 Sa 151/11 Rn. 47; LArbG Hamburg, Urt. v. 06.01.2010 – 5 Sa 33/09 Rn. 54). Die EuGH-Entscheidung bezog sich unmittelbar nur auf den Arbeitgeberinnenzuschuss zur Vermögensbildung der Arbeitnehmerin nach dem 5. VermbG. Auf Grundlage der Begründung des EuGH ließe sich allerdings argumentieren, dass auch der Arbeitnehmerinnenanteil zu den vermögenswirksamen Leistungen den Mindestlohnanspruch nicht erfüllen könnte. Auch der Arbeitnehmerinnenanteil dient nämlich der Kapitalbildung. Gleichwohl besteht ein wesentlicher Unterschied zur Zahlung des Arbeitgeberinnenanteils. Über den Arbeitnehmerinnenanteil verfügt die Arbeitnehmerin selbst. Sie kann die Anrechnung von Arbeitsentgelt auf den Mindestlohn nicht dadurch umgehen, dass sie ihre Arbeitgeberin verbindlich anweist, Teile des Lohns zum Zwecke der Kapitalbildung an eine Dritte zu überweisen. Hingegen können Leistungen der Arbeitgeberin an eine Dritte auch dann, wenn sie Gegenleistung für die Arbeitsleistung der Arbeitnehmerin sind, nicht mindestlohnrelevant sein. Als mindestlohnrelevant können nur solche Lohnansprüche der Arbeitnehmerin angesehen werden, über welche diese auch verfügen kann (vgl. Sittard in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht, § 1 MiLoG Rn. 24).

D. Auswirkungen für die Praxis

Die 3. Kammer hat wegen der bisher fehlenden höchstrichterlichen Klärung zahlreicher entscheidungserheblicher Rechtsfragen durch das BAG die Revision zugelassen, die auch eingelegt wurde (5 AZR 441/16). Für die betriebliche Praxis bleibt die Klärung durch das BAG abzuwarten.