Nachfolgend ein Beitrag vom 25.5.2016 von Löbig, jurisPR-ArbR 21/2016 Anm. 5

Leitsatz

Nicht funktional gleichwertige Leistungen im Sinne der Rechtsprechung des BAG zur Anrechnung von Leistungen auf tarifliche Mindestlöhne wie an weitere Voraussetzungen geknüpfte Sonderzuwendungen und nur im Falle der Urlaubsgewährung zusätzlich gezahltes Urlaubsgeld können nicht auf den Mindestlohn angerechnet werden.
Sollen diese Leistungen aufgrund der Einführung des Mindestlohnes gestrichen werden, müssen die Voraussetzungen einer Änderungskündigung zur Entgeltreduzierung vorliegen.

A. Problemstellung

Gemäß den §§ 1 Abs. 1, 2 MiLoG hat jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer seit dem 01.01.2015 Anspruch auf Zahlung eines Arbeitsentgelts mindestens in Höhe von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde durch den Arbeitgeber. Ziel des Gesetzes zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns ist es, angemessene Arbeitsbedingungen sicherzustellen und die Beschäftigten vor unangemessen niedrigen Löhnen zu schützen (vgl. Düwell in: Düwell/Schubert, MiLoG, 1. Aufl. 2015, § 1 Rn. 8). Während Sozialdemokraten und Gewerkschaften die Einführung einer gesetzlichen Einkommensuntergrenze bejubeln, äußern Konservative und Unternehmensvertreter weiterhin Kritik, insbesondere wegen der erheblich gestiegenen Lohnkosten. Einige Arbeitgeber scheinen aktuell zu versuchen, bislang gewährte Zusatzzahlungen – im hier besprochenen Berufungsverfahren standen Leistungszulagen, Sonderzuwendungen und Urlaubsgeld im Fokus – mit dem gesetzlichen Mindestlohn zu verrechnen. Zu diesem Zweck werden Änderungskündigungen ausgesprochen. Ist das rechtlich zulässig?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Beklagte zahlte der Klägerin seit Anfang 2014 einen Stundenlohn von 7,50 Euro brutto. Daneben gewährte sie ihr eine Leistungszulage, ein Urlaubsgeld und eine Jahressonderzahlung. Die Höhe der Sonderzahlung war an die Dauer der Betriebszugehörigkeit geknüpft; sie unterlag zudem einem Kürzungsvorbehalt bei aufgetretenen krankheitsbedingten Fehlzeiten. Mit Wirkung zum 31.12.2014 sprach die Beklagte eine Änderungskündigung aus und bot der Klägerin gegen Verzicht auf Leistungszulage, Urlaubsgeld und Jahressonderzahlung an, künftig zu einem Lohn von brutto 8,69 Euro pro Stunde für sie zu arbeiten. Dieses Änderungsangebot nahm die Klägerin unter dem Vorbehalt des § 2 Satz 1 KSchG an. Sie erhob fristgerecht Klage vor dem Arbeitsgericht und machte dort die fehlende soziale Rechtfertigung der Änderung ihrer Arbeitsbedingungen geltend.
Das ArbG Berlin gab der Klage statt. Die hiergegen eingelegte Berufung der Beklagten blieb vor dem LArbG Berlin-Brandenburg ohne Erfolg.
Die zuständige Kammer 9 führt zu der streitentscheidenden Frage der Anrechenbarkeit von Leistungszulage, Urlaubsgeld und Jahressonderzahlung auf den gesetzlichen Mindestlohn aus:
„Welche arbeitsvertraglichen Leistungen auf den gesetzlichen Mindestlohn anzurechnen sind, ist nach den Maßstäben des BAG zur Anrechnung bei bereits bestehenden Mindestlöhnen aufgrund allgemeinverbindlicher Tarifverträge zu prüfen (…). Hiernach ist bei der Anrechnung von Leistungen auf (tariflich) begründete Forderungen darauf abzustellen, ob die dem Arbeitgeber erbrachte Leistung ihrem Zweck nach diejenige Arbeitsleistung entgelten soll, die mit der (tariflich) begründeten Zahlung zu vergüten ist. Daher ist dem erkennbaren Zweck des (tariflichen) Mindestlohns, den der Arbeitnehmer als unmittelbare Leistung für die verrichtete Tätigkeit begehrt, der zu ermittelnde Zweck der jeweiligen Leistung des Arbeitgebers, die dieser aufgrund anderer (individual- oder kollektivrechtlicher) Regelungen erbracht hat, gegenüberzustellen. Besteht danach (…) eine funktionale Gleichwertigkeit der zu vergleichenden Leistungen, ist die erbrachte Leistung auf den zu erfüllenden Anspruch anrechenbar.“
Hinsichtlich des Urlaubsgeldes und der Sonderzahlung lehnt das Landesarbeitsgericht eine solche „funktionale Gleichwertigkeit“ ab. Die Begründung überzeugt und steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 14.04.2005 – C-341/02 „Kommission/Deutschland“, und Urt. v. 07.11.2013 – C-522/12 „Isbir“): Das zusätzlich gezahlte Urlaubsgeld stellt „keine unmittelbare Gegenleistung für die erbrachte Arbeitsleistung“ dar, da „aus der Anknüpfung an den Urlaub folgt, dass das Urlaubsgeld dem Erholungszweck des Urlaubs und nicht der Vergütung einer Arbeitsleistung dienen soll.“ Gleiches gilt für die Sonderzuwendung, weil damit „nicht nur die Arbeitsleistung im Allgemeinen, sondern eine langjährige Betriebstreue oder durchgehende Verfügbarkeit ohne krankheitsbedingte Ausfallzeiten“ honoriert werden soll.
Ob die der Klägerin gewährte Leistungszulage auf den gesetzlichen Mindestlohn angerechnet werden kann, ließ das Landesarbeitsgericht vorliegend dahinstehen. Dies deshalb, weil die Beklagte keine dringenden betrieblichen Gründe dargelegt hatte, welche die Änderung der Arbeitsbedingungen i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG hätten sozial rechtfertigen können. Die sehr hohen Wirksamkeitsvoraussetzungen, die das BAG an eine Änderungskündigung zur Entgeltabsenkung stellt (vgl. BAG, Urt. v. 26.06.2008 – 2 AZR 139/07 – NZA 2008, 1182, 1183, m. Anmerkung Winzer, FD-ArbR 2008, 266882) waren offensichtlich nicht erfüllt.
Die hier besprochene Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig; die Beklagte hat Nichtzulassungsbeschwerde zum BAG (2 AZN 1062/15) eingelegt.

C. Kontext der Entscheidung

Landauf, landab wird derzeit um die Anrechenbarkeit von Lohnbestandteilen auf den gesetzlichen Mindestlohn und damit um die Definition des Mindestlohnbegriffs gestritten. Auffällig und zu begrüßen ist insoweit, dass sich die Gerichte für Arbeitssachen stets eingehend mit der Rechtsprechung des EuGH zur Arbeitnehmerentsenderichtlinie und des BAG zur Einbeziehung von Vergütungsbestandteilen auf den tariflichen Mindestlohn auseinandersetzen.
Soweit es die – hier ebenfalls streitige – Anrechenbarkeit eines zusätzlich zum Urlaubsentgelt gezahlten Urlaubsgeldes auf den gesetzlichen Mindestlohn betrifft, scheint sich in der Instanzrechtsprechung die Meinung durchzusetzen, dass eine Verrechnungsmöglichkeit an den funktional unterschiedlichen Leistungszwecken scheitert. Denn der Leistungszweck des Urlaubsgeldes zielt nicht auf die Vergütung der normalen Arbeitsleistung, sondern darauf ab, die durch den Urlaub entstehenden Zusatzkosten auszugleichen (LArbG Chemnitz, Urt. v. 27.01.2016 – 2 Sa 375/15 Rn. 45; LArbG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 25.09.2015 – 8 Sa 677/15 Rn. 15; ArbG Bautzen, Urt. v. 25.06.2015 – 1 Ca 1094/15 Rn. 22; ArbG Berlin, Urt. v. 04.03.2015 – 54 Ca 14420/14 Rn. 52).
Ein vergleichbar eindeutiges Meinungsbild zeichnet sich hinsichtlich der Rechtsfrage, ob und unter welchen konkreten Voraussetzungen Einmal- oder Sonderzahlungen, zum Beispiel in Form von Weihnachts- oder Urlaubsgeldern, auf den gesetzlichen Mindestlohn angerechnet werden können, noch nicht ab. Grund dafür ist, dass die Beantwortung dieser Frage vielfach von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls abhängt. Das LArbG Hamm (Urt. v. 14.01.2016 – 18 Sa 1279/15) hat die in der Literatur (Düwell in: Düwell/Schubert, MiLoG, § 1 Rn. 41 ff.; Franzen in: ErfKomm, 16. Aufl. 2016, § 1 MiLoG Rn. 15 f., jeweils m.w.N.) geäußerten Bedenken gegen die Anrechenbarkeit von jährlich gezahlten Weihnachts- und Urlaubsgeldern mit Hinweis auf die Fälligkeitsregelung des § 2 Abs. 1 Nr. 2 MiLoG jüngst geteilt. In der Sache verwarf die Kammer 18 allerdings die Berufung der Klägerin gegen die Entscheidung des ArbG Herne (LArbG Hamm, Urt. v. 07.07.2015 – 3 Ca 684/15 Rn. 28), wonach Einmal- oder Sonderzahlungen auf den gesetzlichen Mindestlohn angerechnet werden können, wenn die Zahlung unwiderruflich – d.h. insbesondere auch ohne Rückzahlungsklausel – und jeweils anteilig im Fälligkeitsmonat erfolgte und im Übrigen auch an keine weiteren Voraussetzungen (z.B. Betriebstreue) geknüpft war.
Unübersichtlich ist die Gemengelage auch beim Thema „Leistungszulage“: Das ArbG Düsseldorf (Urt. v. 20.04.2015 – 5 Ca 1675/15 Rn. 28) legt § 1 MiLoG so aus, dass Grundlohn und Leistungsbonus in die Berechnung des Mindestlohns einfließen – jedenfalls dann, wenn der Leistungsbonus an die „Normalleistung“ anknüpft. Das ArbG Herford (Urt. v. 11.09.2015 – 1 Ca 551/15 Rn. 58) meint hingegen, die Auslegung des Mindestlohngesetzes führe dazu, dass Leistungszulagen, die sich aus dem Zweck einer Akkordvergütung ergeben, nicht auf den gesetzlichen Mindestlohn nach § 1 Abs. 1, 2 MiLoG anzurechnen sind. Der hier besprochenen Entscheidung des LArbG Berlin-Brandenburg ist insoweit kein zusätzlicher Erkenntnisgewinn zu entnehmen.

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Präsidentin des BAG Schmidt hat in einem Interview Anfang Februar 2016 für den Herbst dieses Jahres ein Grundsatzurteil des BAG zur Anrechenbarkeit von Sonderzahlungen auf den gesetzlichen Mindestlohn angekündigt (dpa, Keine Klagewelle zum Mindestlohn, Handelsblatt v. 10.02.2016). Damit dürften sich zahlreiche Rechtsstreitigkeiten betreffend die Konturen des Mindestlohnbegriffs erledigen.