Nachfolgend ein Beitrag vom 4.5.2016 von Düwell, jurisPR-ArbR 18/2016 Anm. 1

Leitsatz

Eine an die Rentenberechtigung aufgrund der Schwerbehinderung anknüpfende Pauschalierung der Sozialplanabfindung benachteiligt schwerbehinderte Arbeitnehmer unmittelbar gegenüber nicht schwerbehinderten Arbeitnehmern, welche in gleicher Weise von dem sozialplanpflichtigen Arbeitsplatzverlust betroffen sind und eine höhere, nach ihren individuellen Betriebs- und Sozialdaten zu ermittelnde Sozialplanabfindung verlangen können.

A. Problemstellung

Es wird darum gestritten, ob bei einem schwerbehinderten Beschäftigten wegen seines rentennahen Alters und seines früheren Rentenzugangs bei der Bemessung der Sozialplanabfindung ein Abschlag vorgenommen werden darf.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der 1950 geborene Kläger war bis zum 31.03.2012 beschäftigt. Er ist schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 70. Sein Arbeitsverhältnis endete aus betriebsbedingten Gründen wegen Stilllegung einer Betriebsabteilung. Die anlässlich dieser Betriebsänderung geschlossene „Vereinbarung über einen Sozialplan“ lautet auszugsweise:
㤠2 Abfindungen bei betriebsbedingtem Arbeitsplatzverlust
(1). 1 Mitarbeiter, die betriebsbedingt auf Veranlassung des Arbeitgebers ihren Arbeitsplatz verlieren, haben einen Anspruch auf eine Abfindung, die nach folgender Formel berechnet wird: Betriebszugehörigkeit x Monatsentgelt x Faktor = Abfindung. 2 Die Faktoren sind bis zur Vollendung des 45. Lebensjahres: 0,4; vom Beginn des 46. bis zur Vollendung des 50. Lebensjahres: 0,5 und vom Beginn des 51. Lebensjahres: 0,55. …
5 Der maximale Abfindungsbetrag wird auf EUR 65.000,00 brutto begrenzt. 6 Mitarbeiter, die aufgrund einer Schwerbehinderung zu Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Rente in Anspruch nehmen können, haben keinen Anspruch auf Abfindung nach der vorstehenden Faktorenberechnung. 7 Diese erhalten eine Abfindung in Höhe von EUR 10.000,00 brutto. …
(3) Rentennahe Jahrgänge: Bei Mitarbeitern, deren Geburtstag vor dem 1. Januar 1952 liegt, ist der Abfindungsbetrag abweichend von Absatz 1 (letzter Satz) wie folgt begrenzt:
Mitarbeiter, die nach einem Arbeitslosengeldbezug (ALG I) von bis zu maximal 12 Monaten die vorgezogene Altersrente wegen Arbeitslosigkeit erstmals in Anspruch nehmen können, erhalten einen maximalen Abfindungsbetrag i.H.v. EUR 40.000,00 brutto. …
(5) Zusatzbetrag: Schwerbehinderte oder einem Schwerbehinderten Gleichgestellte im Sinne des Schwerbehindertengesetzes, die beim rechtlichen Ende des Arbeitsverhältnisses schwerbehindert sind, erhalten einen Zuschlag zur Abfindung in Höhe von EUR 1.000,00 brutto. …“
Die Arbeitgeberin zahlte dem Kläger, der eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab dem 01.08.2013 abschlagsfrei und mit frühestem Rentenbeginn ab dem 01.08.2010 mit Abschlägen beziehen konnte, neben dem Zusatzbetrag nach § 2 Ziff. 5 i.H.v. 1.000 Euro eine Abfindung entsprechend § 2 Ziff. 1 Satz 6 und Satz 7 i.H.v. 10.000 Euro. Die Berechnung der Abfindung nach der in § 2 Ziff. 1 Satz 1 festgelegten Formel hätte 64.558,00 Euro ergeben.
Der Kläger hat eine weitere Abfindung in Höhe von 53.558 Euro verlangt, weil die Regelung des § 2 Ziff. 1 Satz 6 und Satz 7 SP 2011 ihn wegen seiner Schwerbehinderung benachteilige und deshalb unwirksam sei.
Das Arbeitsgericht hat zur Zahlung einer weiteren Abfindung i.H.v. 30.000 Euro brutto verurteilt. Der auf der Grundlage der Formelberechnung des § 2 Ziff. 1 Satz 1 zu ermittelnde Abfindungsbetrag sei nach § 2 Ziff. 3 auf 40.000 Euro begrenzt. Das Landesarbeitsgericht hat die nur von der beklagten Arbeitgeberin eingelegte Berufung zurückgewiesen. Ebenso war deren Revision erfolglos, denn der Erste Senat des BAG hat erkannt, es bestehe ein Anspruch auf die noch rechtshängige Sozialplanabfindung i.H.v. 30.000 Euro brutto.
Der Erste Senat untersucht zunächst die rentenrechtliche Situation, an die der Sozialplan anknüpft. Dort haben die Betriebsparteien die in § 2 Ziff. 1 Satz 6 und Satz 7 geregelte Abfindungspauschale nicht auf den tatsächlichen Bezug der Rente, sondern auf das Bestehen eines entsprechenden Anspruchs abgestellt. Sie haben nicht zwischen den Möglichkeiten differenziert, die Altersrente für schwerbehinderte Menschen nach § 236a SGB VI abschlagsfrei (beim Kläger gemäß § 236a Abs. 2 Satz 1 HS. 1 SGB VI nach Vollendung des 63. Lebensjahres) oder vorzeitig mit Abschlägen (beim Kläger gemäß den §§ 236a Abs. 2 Satz 1 HS. 2 i.V.m. 77 Abs. 2 Satz 1 Ziff. 2 lit. a SGB VI nach Vollendung des 60. Lebensjahres) in Anspruch zu nehmen. Für den Kläger bestand unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ab dem 01.04.2012 die Möglichkeit, eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen vorzeitig in Anspruch zu nehmen (§ 236a Abs. 2 Satz 1 HS. 2 SGB VI). Er hatte in diesem Zeitpunkt das 60. Lebensjahr vollendet.
Der Senat verneint, dass diese Ausgestaltung der Sozialplanabfindung für rentenberechtigte schwerbehinderte Arbeitnehmer mit dem betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz des § 75 Abs. 1 BetrVG vereinbar ist. Sie benachteiligt nämlich unmittelbar schwerbehinderte Beschäftigte, weil sie diese rentennahen Personen weniger günstig i.S.v. § 3 Abs. 1 AGG als andere gleichalte, nicht behinderte Beschäftigte behandelt.

C. Kontext der Entscheidung

Das BAG überprüft in Anwendung seiner bisherigen Rechtsprechungslinie die Sozialplanvereinbarung, ob sie mit höherrangigem Recht, wie insbesondere dem betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, vereinbar ist (BAG, Urt. v. 09.12.2014 – 1 AZR 102/13 Rn. 18). Danach wendet es die Benachteiligungsverbote des AGG auf den so genannten Systemwechsel an, der vorliegt, wenn ein Sozialplan für die Berechnung einer Abfindung zwischen unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen differenziert (BAG, Urt. v. 09.12.2014 – 1 AZR 102/13 Rn. 19). Zu diesen zählt der Erste Senat das Verbot aus § 7 AGG (BAG, Urt. v. 07.06.2011 – 1 AZR 34/10 – BAGE 138, 107 Rn. 20). Dazu ist allerdings zu bemerken, dass der Senat das spezialgesetzliche Benachteiligungsverbot gegenüber Schwerbehinderten aus § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX (dazu weiterführend wegen der Geltung des Verbandsklagerechts Düwell in: LPK-SGB IX, 4. Aufl., § 81 Rn. 17 f.) übersieht. Da § 81 Abs. 2 Satz 2 SGB IX auf die Anwendung der Bestimmungen des AGG verweist, ist dieses Übersehen ergebnisneutral.
Die Betriebsparteien haben bei dem Systemwechsel das schwerbehindertenrechtliche Benachteiligungsverbot verletzt, indem sie zwischen Arbeitnehmern, denen ein in Abhängigkeit von Betriebszugehörigkeit, Monatsentgelt und Lebensalter zu ermittelnder Abfindungsbetrag zusteht, und denen unterschieden haben, die hiervon ausgenommen sind und einen pauschalierten Betrag erhalten. Diese Systemumstellung verknüpft den Ausschluss von einer Abfindung nach der Berechnung des § 2 Ziff. 1 Satz 1 mit einem Rentenanspruch aufgrund einer Schwerbehinderung. Bei der Behinderung und der Schwerbehinderung handelt es sich um in § 81 Abs. 2 SGB IX, § 1 AGG genannte Merkmale. Die an das Merkmal der Schwerbehinderung anknüpfende Ungleichbehandlung benachteiligt den Kläger unmittelbar i.S.d. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG. Insoweit übernimmt der Erste Senat die Rechtsprechung des Sechsten Senats (BAG, Urt. v. 25.02.2010 – 6 AZR 911/08 – BAGE 133, 265 Rn. 25) und modifiziert seine Auffassung. In der Entscheidung vom 07.06.2011 (1 AZR 34/10 – BAGE 138, 107 Rn. 32 f.) hatte er es für zulässig erachtet, Arbeitnehmer von Sozialplanleistungen auszunehmen, wenn sie wegen des Bezugs einer befristeten vollen Erwerbsminderungsrente nicht beschäftigt sind und mit der Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit auch nicht zu rechnen ist. In diesem Zusammenhang war der Senat davon ausgegangen, dass von Sozialplanleistungen ausgeschlossene erwerbsgeminderte Arbeitnehmer nicht unmittelbar wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden. Jetzt reicht es aus, dass für den Betroffenen in vergleichbarer Lage ein eindeutiger Nachteil bewirkt wird. Das ist hier der Fall; denn nach § 2 Ziff. 1 Satz 6 und Satz 7 stünde dem Kläger die Abfindungspauschale i.H.v. 10.000 Euro zu, während sich für ihn bei einer Abfindungsberechnung gemäß der Faktorenformel des § 2 Ziff. 1 Satz 1 SP 2011 ein Abfindungsbetrag i.H.v. 64.558 Euro ergibt. Die Feststellung einer unmittelbaren Benachteiligung i.S.v. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG setzt nach der modifizierten Rechtsprechung des Ersten Senats voraus, dass die gegeneinander abzuwägenden Situationen vergleichbar sind. Die Prüfung dieser Vergleichbarkeit muss fallbezogen anhand des Zwecks und der Voraussetzungen für die Gewährung der fraglichen Leistungen, also in Bezug auf Ausgleichs- und Überbrückungsfunktion der Abfindung, erfolgen (BAG, Urt. v. 26.06.2014 – 8 AZR 547/13 Rn. 28, m.w.N.). Gemessen hieran ist der schwerbehinderte Arbeitnehmer in Bezug auf seine durch die Betriebsänderung verursachten wirtschaftlichen Nachteile in einer vergleichbaren Situation i.S.d. § 3 Abs. 1 AGG mit nicht schwerbehinderten Arbeitnehmern. Ebenso wie diese verliert er infolge der Betriebsänderung und dem damit verbundenen Verlust seines Arbeitsplatzes seinen Anspruch auf das bisher gewährte Arbeitsentgelt. Aus dem Umstand der früheren Möglichkeit der Inanspruchnahme einer (vorzeitigen) Altersrente aufgrund seiner Schwerbehinderung folgt nicht, dass seine Situation eine andere (bessere) als die eines nicht schwerbehinderten Arbeitnehmers ist (vgl. EuGH, Urt. v. 06.12.2012 – C-152/11 – Rn. 62 „Odar“). Für den Systemwechsel fehlt es folglich an einem zulässigen Differenzierungsgrund.
Hinsichtlich der Rechtsfolge schließt sich der Erste Senat der Auffassung an, dass der Kläger verlangen kann, wie ein nicht schwerbehinderter Arbeitnehmer behandelt zu werden (vgl. [bei einer Tarifvorschrift] BAG, Urt. v. 12.11.2013 – 9 AZR 484/12 Rn. 11; vgl. auch [zur Unanwendbarkeit einer Sozialplanvorschrift] BAG, Urt. v. 19.02.2008 – 1 AZR 1004/06 – BAGE 125, 366 Rn. 23, 39 ff.).

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Betriebsparteien und deren Berater müssen sich auf die modifizierte Rechtsprechung des Ersten Senats des BAG einstellen. Während der Senat früher davon ausging, dass von Sozialplanleistungen ausgeschlossene erwerbsgeminderte Arbeitnehmer nicht unmittelbar wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden (BAG, Urt. v. 07.06.2011 – 1 AZR 34/10 Rn. 32 f.; kritisch dazu Düwell in: LPK-SGB IX, § 81 Rn. 223 f.), reicht es jetzt aus, dass für den Menschen mit Behinderung in vergleichbarer Lage ein eindeutiger Nachteil bewirkt wird. Das ist der Fall, wenn für den Systemwechsel in der Bemessung der Abfindung ein zulässiger Differenzierungsgrund fehlt. Deshalb dürfen rentennahe Beschäftigte mit Behinderungen gegenüber gleichalten, nicht behinderten Beschäftigten nicht schlechter gestellt werden.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Der Erste Senat berücksichtigt nicht, dass das Benachteiligungsverbot gegenüber Schwerbehinderten aus § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX gegenüber dem allgemeinen Benachteiligungsverbot wegen einer Behinderung aus den §§ 1, 7 AGG spezieller ist. Das wirkt sich zwar hier im Ergebnis nicht aus. Es wird jedoch dann relevant, wenn ein Behindertenverband in Wahrnehmung des Klagerechts aus § 63 SGB IX die Benachteiligung gerichtlich geltend macht (dazu Düwell in: LPK-SGB IX, § 81 Rn. 17 f.). Für die gerichtliche Geltendmachung der Rechtsfolgen aus dem allgemeinen Benachteiligungsverbot besteht kein Verbandsklagerecht.