Nachfolgend ein Beitrag vom 20.4.2016 von Bissels, jurisPR-ArbR 16/2016 Anm. 4
Leitsatz
Bei der Feststellung der Zahl der Arbeitnehmer im Rahmen des § 38 BetrVG sind Leiharbeitnehmer zu berücksichtigen.
A. Problemstellung
„Wählen, aber nicht zählen“ – dies war einmal der von der herrschenden Ansicht (vgl. nur: BAG, Beschl. v. 22.10.2003 – 7 ABR 3/03) entwickelte Grundsatz, nach dem Zeitarbeitnehmer zwar im Kundenbetrieb bei der dortigen Wahl eines Betriebsrats mitwählen dürfen, aber bei Schwellenwerten der Betriebsverfassung nicht zu berücksichtigen sind, sondern nur Stammbeschäftigte, z.B. bei der Bestimmung der Größe des Betriebsrats (§ 9 BetrVG) oder der Anzahl der Freistellungen von Betriebsratsmitgliedern (§ 38 BetrVG). Das BAG (Beschl. v. 22.10.2003 – 7 ABR 3/03) formulierte wörtlich:
„Leiharbeitnehmer sind keine Arbeitnehmer des Entleiherbetriebs. Sie sind daher bei der für die Anzahl der nach § 38 Abs. 1 BetrVG freizustellenden Betriebsratsmitglieder maßgeblichen Belegschaftsstärke nicht zu berücksichtigen.“
Diese Rechtsprechung hat sich inzwischen gedreht. Das BAG hat die sog. „Zwei-Komponenten-Lehre“ aufgegeben und beurteilt nunmehr einzelfallbezogen, ob Zeitarbeitnehmer bei Schwellenwerten des BetrVG mitzählen (bejahend zu § 9 BetrVG: BAG, Beschl. v. 13.03.2013 – 7 ABR 69/11).
Das LArbG Frankfurt hat auf Grundlage der angepassten Judikatur des BAG nunmehr entschieden, dass auch mit Blick auf die Feststellung der Zahl der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer für die freizustellenden Betriebsratsmitglieder nach § 38 BetrVG Zeitarbeitnehmer mitzuzählen sind.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Dies ergebe sich – so das Gericht – aus dem Sinn und Zweck des § 38 Abs. 1 BetrVG, der davon ausgehe, dass mit zunehmender Betriebsgröße, für die insoweit die Zahl der Arbeitnehmer maßgeblich sei, die anfallenden Aufgaben des Betriebsrats zunähmen. Wie der Gesetzgeber in § 14 Abs. 3 AÜG klargestellt habe, habe der Kunden seinen Betriebsrat bei der Eingliederung von Zeitarbeitnehmern in den Betrieb nach § 99 BetrVG zu beteiligen. Auch die häufigere Fluktuation bei diesen führe im Bereich der personellen Mitbestimmung zu einer im Vergleich mit der Stammbelegschaft höheren Arbeitsbelastung des Betriebsrats. Ferner könnten auch in Bezug auf Zeitarbeitnehmer Mitbestimmungsrechte nach § 87 BetrVG bestehen, z.B. zu Fragen der Ordnung des Betriebs (§ 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG), zur Lage der Arbeitszeit (§ 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG), zur Einführung und Anwendung von Einrichtungen zur Verhaltens- und Leistungskontrolle (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG), zu Regelungen zur Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie über den Gesundheitsschutz (§ 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG) und zu Grundsätzen der Gruppenarbeit (§ 87 Abs. 1 Nr. 13 BetrVG). Ferner bestehe eine Ausschreibungspflicht nach § 93 BetrVG auch für Arbeitsplätze, die mit Zeitarbeitnehmern besetzt werden sollten. Dies führe zu einer auf den Einsatz von Zeitarbeitnehmern bezogenen zusätzlichen Arbeitsbelastung.
Führe damit die Arbeitnehmerüberlassung regelmäßig zu einem „Mehr“ an Betriebsratsarbeit, sei es gerechtfertigt, dies bei der Ermittlung der Beschäftigtenzahl nach § 38 Abs. 1 BetrVG mitzuzählen. Wie der Gesetzgeber in der Vorschrift ausdrücklich angeordnet habe, sei insoweit eine typisierende Betrachtungsweise vorzunehmen. Es komme daher nicht darauf an, welcher Arbeitsanfall beim Betriebsrat je Beschäftigten tatsächlich entstehe. Dies gelte auch in Bezug auf im Betrieb eingesetzte Zeitarbeitnehmer. Solle dem Normzweck Rechnung getragen werden, müssten diese wie Stammarbeitnehmer „zählen“. Eine konkrete, anlassbezogene Berechnungsmethode würde der Systematik des § 38 Abs. 1 BetrVG zuwiderlaufen.
§ 9 BetrVG einerseits und § 38 BetrVG andererseits hätten keinen grundlegend unterschiedlichen Sinn. Beide Vorschriften sähen auf die Betriebsgröße abstellende Staffeln hinsichtlich der Arbeitnehmerzahl vor, die der aus einer zunehmenden Betriebsgröße folgenden Steigerung der Betriebsratsaufgaben Rechnung trügen. Für § 9 BetrVG führe dies zu einer erhöhten Anzahl von Betriebsratsmitgliedern, während § 38 BetrVG eine höhere Zahl an Freistellungen vorsehe. Darauf, dass deren Anzahl gem. § 38 BetrVG nicht linear steige, komme es nicht an. Entscheidend ist, im Rahmen einer typisierenden Betrachtungsweise der mit der Beschäftigung von Leiharbeitnehmern regelmäßig einhergehenden Zunahme von Betriebsratstätigkeiten auch bei der Berechnung der Freistellungen angemessen Rechnung zu tragen. Dies könne am ehesten durch die Berücksichtigung der Zeitarbeitnehmer im Rahmen der Berechnung der Beschäftigtenzahl des § 38 Abs. 1 BetrVG erfolgen.
Gegen das „Mitzählen“ der Zeitarbeitnehmer spreche auch nicht § 14 Abs. 1 AÜG, nach dem diese während der Zeit der Überlassung dem Betrieb des Personaldienstleisters zugeordnet würden. Das BAG habe nämlich die sog. „Zwei-Komponenten-Lehre“ bereits in seiner Entscheidung vom 05.12.2012 (7 ABR 48/11) für die Fälle drittbezogenen Personaleinsatzes modifiziert und hält hieran auch in Bezug auf den Einsatz von Zeitarbeitnehmern nicht weiter fest (vgl. BAG, Beschl. v. 13.03.2013 – 7 ABR 69/11).
Das Landesarbeitsgericht hat die Rechtsbeschwerde zugelassen, die beim BAG unter dem Az. 7 ABR 60/15 geführt wird.
C. Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung aus Hessen liegt auf Linie der inzwischen herrschenden Meinung, die Zeitarbeitnehmer mit Blick auf die betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerten mit Stammbeschäftigten nunmehr gleichstellt (vgl. LArbG Mainz, Beschl. v. 14.07.2015 – 8 TaBV 34/14; LArbG Stuttgart, Beschl. v. 27.02.2015 – 9 TaBV 8/14). Dafür hatte zuvor das BAG den Weg freigemacht, in dem es die reine „Zwei-Komponenten-Lehre“ aufgegeben hat, die bei strenger Anwendung dazu führte, dass Zeitarbeitnehmer „wählten, aber nicht zählten“. Danach gehörte zu den konstitutiven Merkmalen der Betriebszugehörigkeit einerseits ein Arbeitsverhältnis zum Betriebsinhaber (diese Voraussetzung fehlt bei Zeitarbeitnehmern), andererseits die tatsächliche Eingliederung des Mitarbeiters in dessen Betriebsorganisation. Diese Lehre führe – so das BAG – beim drittbezogenen Personaleinsatz und einer „aufgespaltenen Arbeitgeberstellung“ aber nicht zu sachgerechten Ergebnissen. In diesen Fällen seien vielmehr differenzierende Lösungen geboten, die zum einen die ausdrücklich normierten spezialgesetzlichen Konzepte, zum anderen aber auch die Funktion des Arbeitnehmerbegriffs im jeweiligen betriebsverfassungsrechtlichen Zusammenhang angemessen berücksichtigten (vgl. BAG, Beschl. v. 05.12.2012 – 7 ABR 48/11). So hat das BAG in der Folge anerkannt, dass regelmäßig im Kundenbetrieb beschäftigte Zeitarbeitnehmer bei der Bestimmung der Größe des Betriebsrats gem. § 9 BetrVG grundsätzlich zu berücksichtigen sind (BAG, Beschl. v. 13.03.2013 – 7 ABR 69/11; so auch: LArbG Mainz, Beschl. v. 06.03.2015 – 1 TaBV 23/14). Die Instanzrechtsprechung hat Zeitarbeitnehmer auf Grundlage der geänderten Rechtsprechung des BAG bei der Festlegung der Anzahl von freizustellenden Betriebsratsmitgliedern gem. § 38 BetrVG ebenfalls mitgezählt (vgl. LArbG Mainz, Beschl. v. 14.07.2015 – 8 TaBV 34/14, Rechtsbeschwerde anhängig unter dem Az. 7 ABR 51/15; LArbG Stuttgart, Beschl. v. 27.02.2015 – 9 TaBV 8/14; Rechtsbeschwerde anhängig unter dem Az. 7 ABR 16/15). Höchstrichterlich ist diese Frage allerdings noch nicht abschließend geklärt. Es ist aber davon auszugehen, dass das BAG seiner eingeschlagenen Linie treu bleibt und – ähnlich wie bei § 9 BetrVG – auch im Zusammenhang mit § 38 BetrVG die bisherigen formalen Unterschiede zwischen Zeitarbeitnehmern und Stammbeschäftigten einebnet. Der Siebte Senat wird sicherlich bald die Gelegenheit bekommen, sich im Rahmen der dort anhängigen Rechtsbeschwerden zu dieser Frage zu äußern.
D. Auswirkungen für die Praxis
Die Praxis wird sich darauf einzustellen haben, dass die Instanzrechtsprechung mit Blick auf die Schwellenwerte der Betriebsverfassung die Judikatur des BAG nach Aufgabe der „Zwei-Komponenten-Lehre“ großzügig interpretiert und Zeitarbeitnehmer grundsätzlich wie Stammbeschäftigte mitzählen wird. Ob und in welchem Umfang dies tatsächlich richtig ist, wird für die einzelnen Vorschriften des BetrVG noch höchstrichterlich geklärt werden müssen. Dies gilt auch mit Blick auf die Auslegung von § 38 BetrVG.
Für die Zukunft scheint der Weg hingegen klar vorgezeichnet: Nach dem zuletzt veröffentlichten Gesetzesentwurf des BMAS zur Regulierung des Einsatzes von Fremdpersonal vom 17.02.2016 sollen Zeitarbeitnehmer qua gesetzlicher Anordnung – mit Ausnahme von § 112a BetrVG – bei den Schwellenwerten der Betriebsverfassung zu berücksichtigen sein (§ 14 Abs. 2 Satz 4 AÜG-E). Damit geht der Gesetzgeber noch über die vom BAG festgelegten Grundsätze hinaus, nach denen eine einzelfallbezogene Betrachtung – unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der jeweils betroffenen Norm – zu erfolgen hat, um im Ergebnis feststellen zu können, ob Zeitarbeitnehmer zählen oder nicht. Der Gesetzgeber pauschalisiert und schert im Ergebnis außer bei § 112a BetrVG sämtliche betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerte über einen Kamm. Dies entspricht nicht den Vorgaben des BAG und auch nicht den Festlegungen im Koalitionsvertrag. Dort heißt es, dass „zur Erleichterung der Arbeit der Betriebsräte gesetzlich klargestellt wird, dass Leiharbeitnehmer bei den betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerten grundsätzlich zu berücksichtigen sind, sofern dies der Zielrichtung der jeweiligen Norm nicht widerspricht.“ Von einer „Gleichmacherei“, die sich aus dem Gesetzesentwurf nun ergibt, ist hier noch keine Rede.
Damit aber nicht genug: Zukünftig sollen Zeitarbeitnehmer auch bei Schwellenwerten der unternehmerischen Mitbestimmung als Mitarbeiter des Einsatzunternehmens gezählt werden (bejahend zu § 9 MitbestG: BAG, Beschl. v. 04.11.2015 – 7 ABR 42/13), so sieht es zumindest der zuletzt veröffentlichte Gesetzesentwurf des BMAS vor. Auch davon findet sich im Koalitionsvertrag kein Wort. Ob sich ambitionierten Pläne aus dem BMAS zumindest noch auf dasjenige „eindampfen“ lassen, was CDU/CSU und SPD einmal vereinbart haben, wäre wünschenswert, bleibt aber abzuwarten.