Nachfolgend ein Beitrag vom 23.8.2017 von Boemke, jurisPR-ArbR 34/2017 Anm. 1

Leitsatz

Leiharbeitnehmer sind bei der Feststellung der für die Anzahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder maßgeblichen Belegschaftsstärke im Entleiherbetrieb zu berücksichtigen, wenn sie zu dem regelmäßigen Personalbestand des Betriebs gehören.

A. Problemstellung

Die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei den Schwellenwerten des BetrVG ist seit jeher Gegenstand arbeitsrechtlicher Beschlussverfahren. Zuletzt hatte das BAG die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern beim Schwellenwert des § 9 BetrVG bejaht (BAG, Beschl. v. 13.03.2013 – 7 ABR 69/11). Auch bei der Zahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder nach § 38 BetrVG stellt sich die Frage, ob Leiharbeitnehmer bei der Berechnung des Schwellenwertes mitzuzählen sind. Im vorliegenden Verfahren hatte der Siebte Senat des BAG die Möglichkeit, hierzu noch zur Rechtslage vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze mit Wirkung zum 01.04.2017 Stellung zu beziehen.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Im vorliegenden Beschlussverfahren streiten die Beteiligten um die Anzahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder. Im Betrieb der beteiligten Arbeitgeberin ist ein Betriebsrat gebildet. Nach der konstituierenden Wahl des Betriebsrats wurde die Arbeitgeberin darüber informiert, dass der Betriebsrat beabsichtige, zwei Betriebsratsmitglieder freizustellen. Diesem Begehren widersprach die Arbeitgeberin mit Hinweis auf die Anzahl der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer. Zu diesem Zeitpunkt beschäftigte die Arbeitgeberin im Betrieb 488 Stammarbeiter und 22 Leiharbeitnehmer. Sowohl die Zahl der Stammarbeiter als auch die Zahl der Leiharbeiter stieg in der Folgezeit.
Der Antrag hatte in allen Instanzen Erfolg.
Zunächst stellt der Siebte Senat des BAG fest, dass § 38 Abs. 1 BetrVG nicht näher definiert, wer Arbeitnehmer im Sinne der Vorschrift ist. Sodann wird dargelegt, dass bei Leiharbeitnehmern eine von der „Normfall-Gestaltung“ abweichende Situation besteht. Der Arbeitsvertrag werde mit dem Verleiher geschlossen, die Eingliederung erfolge in die betriebliche Organisation beim Entleiher. Die stringente Fortführung dieser „Zwei-Komponenten-Lehre“ würde dazu führen, dass der Leiharbeitnehmer weder dem Entleiher- noch dem Verleiherbetrieb zuzuordnen wäre (dagegen schon zutreffend Boemke, Schuldvertrag und Arbeitsverhältnis, 1999, S. 556 ff., 565 ff.; zur Schwäche der „Zwei-Komponenten-Lehre“ siehe auch: BAG, Beschl. v. 05.12.2012 – 7 ABR 48/11 Rn. 19-25). Die Auslegung führe jedoch zu dem Ergebnis, dass Leiharbeitnehmer bei dem Schwellenwert des § 38 BetrVG zu berücksichtigen seien, sofern sie zu dem regelmäßigen Personalstand des Betriebs zählten. Im Folgenden wird das Ergebnis schulmäßig anhand des Auslegungskanons begründet.
Dem Wortlaut könne zumindest nicht entnommen werden, dass Leiharbeitnehmer im Rahmen des § 38 BetrVG nicht zu berücksichtigen seien. Zwar stelle § 38 Abs. 1 BetrVG auf die „in der Regel“ beschäftigten Arbeitnehmer ab. Hierzu könnten aber auch Leiharbeitnehmer zählen, soweit sie nicht nur gelegentlich oder vertretungsweise eingesetzt werden. In systematischer Hinsicht stehe § 14 Abs. 1 AÜG (a.F.) einer Berücksichtigung beim Schwellenwert nicht entgegen. Der Umstand, dass der Leiharbeitnehmer weiter dem Verleiherbetrieb angehöre, schließe die Berücksichtigung im Entleiherbetrieb nicht aus. Maßgeblich sei bei der Auslegung letztlich der Normzweck (vgl. auch ähnliche Argumentation zum Normzweck: BAG, Beschl. v. 13.03.2013 – 7 ABR 69/11 Rn. 28-34).
Die §§ 37 Abs. 2, 38 BetrVG bezweckten eine möglichst effektive Betriebsratsarbeit. Dem Freistellungsanspruch liege zudem die Erwägung zugrunde, dass Streitigkeiten über das Ausmaß der Arbeitsbefreiung verhindert werden sollten. Bzgl. der Zahl der freizustellenden Mitglieder des Betriebsrats bestehe kraft Gesetzes ein Zusammenhang mit der Anzahl der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer. Mehr Arbeitnehmer verursachten mehr Arbeit für den Betriebsrat, sodass auch ein erhöhtes Bedürfnis an freigestellten Betriebsratsmitgliedern bestehe. Nach der Staffelung in § 38 Abs. 1 BetrVG soll die Anzahl der freigestellten Betriebsratsmitglieder in einem angemessenen Verhältnis zur Anzahl der betriebsangehörigen Arbeitnehmer stehen, deren Interessen und Rechte der Betriebsrat zu wahren habe. Der Arbeitsaufwand des Betriebsrats werde aber auch durch die Zahl der Leiharbeitnehmer bestimmt. Sowohl die Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten nach § 87 BetrVG als auch in personellen Angelegenheiten beziehe sich auch auf Belange der Leiharbeitnehmer. Ebenso erhöhe sich der Aufwand des Betriebsrats durch die Bestimmung des § 14 Abs. 2 AÜG i.V.m. §§ 81, 82 Abs. 1, 84-86 BetrVG. Die interessengerechte Wahrnehmung der Mitbestimmung durch den Betriebsrat wäre daher gefährdet, wenn Leiharbeitnehmer im Rahmen des § 38 Abs. 1 BetrVG nicht mitgezählt würden (BAG, Beschl. v. 15.12.2011 – 7 ABR 65/10 Rn. 26). Unerheblich sei, ob die Anzahl der Leiharbeitnehmer tatsächlich im Einzelfall zu einem erhöhten Arbeitsaufwand für den Betriebsrat führe. Bei der Festlegung der Schwellenwerte werde eine typisierte Betrachtung unabhängig von dem tatsächlichen Arbeitsaufwand zugrunde gelegt.
Dann stellt das BAG fest, dass die allgemeinen Grundsätze zur Bestimmung der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer auch auf die Leiharbeitnehmer zu übertragen sind. Die Ermittlung der maßgeblichen Betriebsgröße erfordere sowohl die Berücksichtigung der Entwicklung der Arbeitnehmerzahl in der Vergangenheit in einem signifikanten Zeitraum als auch eine Prognose bzgl. zu erwartender konkreter Veränderungen (BAG, Beschl. v. 04.11.2015 – 7 ABR 42/13 Rn. 36). Soweit Arbeitnehmer nicht ständig, sondern lediglich zeitweilig beschäftigt werden, sei für die Frage der regelmäßigen Beschäftigung maßgeblich, ob sie normalerweise während des größten Teils eines Jahres, d.h. länger als sechs Monate, beschäftigt werden (vgl. BAG, Beschl. v. 04.11.2015 – 7 ABR 42/13 Rn. 36; BAG, Beschl. v. 18.10.2011 – 1 AZR 335/10 Rn. 21; BAG, Beschl. v. 12.11.2008 – 7 ABR 73/07 Rn. 16). Dies gelte auch für Leiharbeitnehmer, wenn Leiharbeit längerfristig als Instrument zur Deckung des Personalbedarfs im Betrieb genutzt werde. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts konnte hier davon ausgegangen werden, dass die Schwelle von 501 Arbeitnehmern überschritten sei.

C. Kontext der Entscheidung

Dem Beschluss ist im Ergebnis sowie in weiten Teilen der Begründung zuzustimmen. Insbesondere wird abweichend von der bisherigen Rechtsprechung (BAG, Beschl. v. 22.10.2003 – 7 ABR 3/03; dagegen schon zuvor zutreffend Boemke, JuS 2002, 521, 523) zutreffend festgestellt, dass Leiharbeitnehmer beim Schwellenwert des § 38 Abs. 1 BetrVG zu berücksichtigen sind (siehe schon: LArbG Stuttgart, Beschl. v. 27.02.2015 – 9 TaBV 8/14 m. Anm. Boemke, jurisPR-ArbR 34/2015 Anm. 3 unter C). Die Entscheidung reiht sich ein in den durch die Entscheidung des Ersten Senats des BAG vom 18.10.2011 (1 AZR 335/10) eingeleiteten Rechtsprechungswandel, demzufolge Leiharbeitnehmer bei den betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerten zu berücksichtigen sind (zu § 9 BetrVG: BAG, Beschl. v. 13.03.2013 – 7 ABR 69/11; zu § 111 BetrVG: BAG, Urt. v. 18.10.2011 – 1 AZR 335/10 Rn. 14). Dies hat der Gesetzgeber nunmehr in § 14 Abs. 2 Satz 4 AÜG n.F. klargestellt.
Nicht ganz präzise sind die Ausführungen zu der Frage, wann die Beschäftigung i.S.v. § 38 Abs. 1 BetrVG „in der Regel“ erfolgt. Soweit das BAG ausführt, dass dann, wenn Arbeitnehmer nicht ständig, sondern lediglich zeitweilig beschäftigt werden, maßgeblich sei, „ob sie normalerweise während des größten Teils eines Jahres, d.h. länger als sechs Monate beschäftigt werden“, kann dies zumindest irreführend sein. Anders als bei der Zahl der ständigen Arbeitnehmer (z.B. § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG) ist nicht auf den konkreten Arbeitnehmer (dazu Boemke, AR-Blattei SD 540 Rn. 154 f. m.w.N.), sondern auf die den Betrieb im Allgemeinen kennzeichnende Personalstärke abzuheben (BAG, Beschl. v. 07.05.2008 – 7 ABR 17/07 Rn. 17; Boemke, AR-Blattei SD 540 Rn. 156; Franzen in: GK-BetrVG, 10. Aufl. 2014, § 1 Rn. 103). Maßgeblich ist also, wie viele Arbeitsplätze regelmäßig besetzt sind (Boemke, AR-Blattei SD 540 Rn. 157). Daher können auch nicht ständig beschäftigte Arbeitnehmer Berücksichtigung finden, soweit nur eine bestimmte Anzahl derartiger Arbeitnehmer regelmäßig im Betrieb eingesetzt wird (Boemke, AR-Blattei SD 540 Rn. 157).
Trotz der beschränkten Einsatzzeit im Betrieb des Entleihers sind auch Leiharbeitskräfte bei der Berechnung der „regelmäßig“ beschäftigten Arbeitnehmer zu berücksichtigen, wenn Arbeitsplätze dauerhaft mit ihnen besetzt werden (Linsenmaier/Kiel, RdA 2014, 135, 145). Mit ihrem Einsatz werden in einem solchen Fall nicht kurzzeitige Arbeitsspitzen abgefangen, sondern der regelmäßige Personalbedarf des Betriebs abgedeckt. Inwieweit der einzelne Leiharbeitnehmer bei dem Entleiher beschäftigt wird, ist insoweit nicht von Belang. Auch wenn auf einem Arbeitsplatz ständig wechselnde Leiharbeitnehmer eingesetzt werden, kennzeichnen diese die normale Belegschaftsstärke (BAG, Urt. v. 24.01.2013 – 2 AZR 140/12 Rn. 24). Bei der Ermittlung der in der Regel Beschäftigten ist daher nicht auf die Einsatzzeit des einzelnen Leiharbeitnehmers, sondern auf die Anzahl der üblicherweise im Betrieb tätigen Leiharbeitskräfte abzustellen (Fitting, BetrVG, 28. Aufl. 2016, § 1 Rn. 272; Linsenmaier/Kiel, RdA 2014, 135, 145).

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Entscheidung des BAG ist zu der alten Rechtslage vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze ergangen. Seit dem 01.04.2017 bestimmt § 14 Abs. 2 Satz 4 AÜG ausdrücklich, dass Leiharbeitnehmer auch im Entleiherbetrieb zu berücksichtigen sind, wenn Bestimmungen des BetrVG (mit Ausnahme von § 112a) eine bestimmte Anzahl oder einen bestimmten Anteil von Arbeitnehmern voraussetzen. In der Sache hat dies nichts geändert, weil durch die gesetzliche Konkretisierung lediglich klargestellt werden soll, dass im Rahmen der Betriebsverfassung im Entleiherbetrieb Leiharbeitnehmer wie Stammarbeitnehmer zu berücksichtigen sind, wenn es in Zusammenhang mit betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften auf die Betriebsgröße ankommt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Leiharbeitnehmer stets Berücksichtigung finden. Nur ausnahmsweise wird nämlich schlicht auf eine bestimmte Anzahl oder einen bestimmten Anteil von Arbeitnehmern abgestellt. Häufiger müssen die in Bezug genommenen Arbeitskräfte „in der Regel“ oder „ständig“ beschäftigt oder „wahlberechtigt“ sein – oftmals auch in Kombination miteinander. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen des jeweiligen Schwellenwerts wird durch § 14 Abs. 2 Satz 4 AÜG nicht angeordnet, sondern muss jeweils gesondert festgestellt werden (Begründung zum RegE, BT-Drs. 18/9232, S. 29).

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Der gleichlautende Antrag des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden wurde als unzulässig abgewiesen. Das einzelne Betriebsratsmitglied hat erst nach seiner Wahl einen Anspruch darauf, freigestellt zu werden (vgl. BAG, Beschl. v. 05.12.2012 – 7 ABR 17/11 Rn. 14; BAG, Beschl. v. 15.12.2011 – 7 ABR 65/10 Rn. 12). Dessen betriebsverfassungsrechtliche Rechtsposition in Bezug auf die Freistellung ist erst nach der Wahl berührt.