Nachfolgend ein Beitrag vom 6.12.2017 von Gerstlauer, jurisPR-ArbR 49/2017 Anm. 2

Leitsatz

Die absichtliche Berührung primärer oder sekundärer Geschlechtsmerkmale eines anderen ist sexuell bestimmt i.S.d. § 3 Abs. 4 AGG. Es handelt sich um einen Eingriff in die körperliche Intimsphäre. Auf eine sexuelle Motivation der Berührung kommt es nicht an.

A. Problemstellung

Wann liegt ein Verstoß gegen § 3 Abs. 4 AGG vor und unter welchen Voraussetzungen führt der Verstoß gegen § 3 Abs. 4 AGG dazu, dass eine fristlose Kündigung wirksam ist?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger war seit Juni 1991 bei der Beklagten beschäftigt. Am 22.10.2014 war er gemeinsam mit zwei Fremdfirmenmitarbeitern bei der Verpackung und Etikettierung von Bandstahlrollen tätig. Einer der beiden Leiharbeiter meldete seinem Vorarbeiter kurz darauf, dass ihn der Kläger von hinten schmerzhaft in den Genitalbereich gegriffen habe. Anschließend habe der Kläger geäußert: „Du hast aber dicke Eier“. Dieses Verhalten des Klägers steht aufgrund der nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts fest. Die Beklagte kündigte dem Kläger daraufhin fristlos und vorsorglich ordentlich. Gegen beide Kündigungen wandte sich der Kläger mit seiner Klage. In der ersten Instanz wurde die Klage abgewiesen. Das LArbG Bremen hat ihr sodann stattgegeben (LArbG Bremen, Urt. v. 16.12.2015 – 3 Sa 60/15).
Das BAG hat das Urteil des Landesarbeitsgerichts aufgehoben.
Nach Ansicht des BAG hat die Beklagte ein eigenes schutzwürdiges Interesse daran, dass die Zusammenarbeit auch mit in ihrem Betrieb eingesetzten Fremdarbeitnehmern nicht durch tätliche Übergriffe beeinträchtigt wird. Das Verhalten des Klägers stelle einen erheblichen Verstoß gegen die ihm gegenüber der Beklagten obliegende Pflicht zur Rücksichtnahme auf deren Interessen gemäß § 241 Abs. 2 BGB dar und sei „an sich“ geeignet, einen wichtigen Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB zur fristlosen Kündigung zu bilden.
Eine sexuelle Belästigung i.S.v. § 3 Abs. 4 AGG liegt vor, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten bezweckt, oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird. Hierbei genüge auch eine einmalige Verhaltensweise. Ob ein Verhalten sexuell bestimmt sei, hänge dabei nicht allein von dem subjektiv erstrebten Ziel des Handelnden ab, sodass eine sexuelle Motivation des Täters nicht notwendig erforderlich sei. Gerade am Arbeitsplatz sei eine sexuelle Belästigung häufig ein Ausdruck von Hierarchien und Machtausübung und weniger von sexuell bestimmter Lust.
Hinsichtlich der Verletzung der Würde der betreffenden Person komme es nicht auf das Ergebnis oder die Absicht an. Der bloße Eintritt der Belästigung genüge. Das Tatbestandsmerkmal der Unerwünschtheit wiederum erfordere nicht, dass der Betroffene seine ablehnende Einstellung zu den fraglichen Verhaltensweisen aktiv verdeutlicht habe. Maßgebend sei allein, ob die Unerwünschtheit der Verhaltensweise objektiv erkennbar war.
Bei dem Griff des Klägers in die Genitalien des Mitarbeiters handle es sich um eine sexuell bestimmte körperliche Berührung. Es handle sich um einen auf die primären Geschlechtsmerkmale und somit die körperliche Intimsphäre des Mitarbeiters gerichteten körperlichen Übergriff, durch den die sexuelle Selbstbestimmung des Betroffenen negiert und damit seine Würde erheblich verletzt werde. Durch die mündliche Äußerung des Klägers würde diese körperliche Beeinträchtigung sprachlich manifestiert und der Betroffene erneut zum Objekt der vermeintlichen Dominanz des Klägers gemacht.
Das Verhalten des Klägers stellt nach Ansicht des BAG demnach einen Verstoß gegen § 3 Abs. 4 AGG dar. Ob dieser Verstoß für eine fristlose Kündigung ausreiche, sei sodann in der Interessenabwägung im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB zu überprüfen. Da es sich vorliegend um steuerbares Verhalten des Arbeitnehmers handele, sei grundsätzlich davon auszugehen, dass ein künftiges Verhalten schon durch eine Abmahnung positiv beeinflusst werden könne. Einer solchen bedürfe es nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar sei, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten stehe, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handele, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen sei. Das Auswahlermessen des Arbeitgebers werde dabei durch § 12 Abs. 3 AGG insoweit eingeschränkt, als dass der Arbeitgeber die Benachteiligung zu „unterbinden“ habe. Es seien daher nur solche Maßnahmen geeignet, von denen der Arbeitgeber annehmen dürfe, dass sie die Benachteiligung für die Zukunft abstellen.
Vorliegend spreche gegen den Kläger, dass dieser nach seinem körperlichen Übergriff durch seine Bemerkung „Du hast aber dicke Eier“ eine erneute Demütigung folgen ließ, die zudem die körperliche Belästigung für alle Personen in Hörweite publik gemacht habe. Zudem habe der Kläger sein Verhalten bei der Anhörung vor seiner Kündigung bestritten. Hierbei müsse festgestellt werden, inwieweit man hierdurch auf eine Uneinsichtigkeit schließen könne.
Zudem stünde noch nicht fest, ob eine so schwere Pflichtverletzung vorläge, dass unabhängig von einer durch Abmahnung ggf. auszuschließenden Wiederholungsgefahr selbst deren erstmalige Hinnahme der Beklagten nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Kläger erkennbar – ausgeschlossen war. Für einen derart schweren Pflichtverstoß spreche die erhebliche und schmerzhafte Weise, in der der Kläger in die Intimsphäre des betroffenen Mitarbeiters eingegriffen habe. Auch die Körperhaltung, in der sich der Betroffene befunden habe, wodurch er dem Kläger wehrlos ausgeliefert gewesen wäre, hätte die Demütigung noch verstärkt. Auch sei es in der Vergangenheit schon häufiger zu Problemen mit dem Kläger gekommen, so dass seine zwar 23-jährige Betriebszugehörigkeit wohl nicht durchgehend störungsfrei gewesen sei.

C. Kontext der Entscheidung

Die Entscheidung steht in einem Kontext diverser Entscheidungen des BAG zu Verstößen gegen § 3 Abs. 4 AGG. In dieser Entscheidung hat das BAG nun konkret definiert, wann ein Verstoß gegen § 3 Abs. 4 AGG vorliegt und insbesondere hervorgehoben, dass es auf eine sexuelle Motivation nicht ankommt.
Allerdings ist auch festzuhalten, dass ein Verstoß gegen § 3 Abs. 4 AGG nicht immer zu einer fristlosen Kündigungsmöglichkeit ohne vorherige Abmahnung führt. In einer anderen Entscheidung des BAG zu § 3 Abs. 4 AGG (BAG, Urt. v. 20.11.2014 – 2 AZR 651/13) führten sowohl das positive Nachtatverhalten des Klägers sowie die Tatsache, dass es sich um den ersten Zwischenfall in dem Arbeitsverhältnis handelte dazu, dass das BAG eine Abmahnung für nicht entbehrlich hielt.

D. Auswirkungen für die Praxis

Für die Praxis liegen nun klare Definitionen vor, wann es sich um einen Verstoß gegen § 3 Abs. 4 AGG handelt. Insbesondere ist geklärt, dass es nicht auf eine sexuelle Motivation ankommt. Die Folgen des Verstoßes, insbesondere die eventuelle Entbehrlichkeit einer Abmahnung, sind aber stets für den Einzelfall zu prüfen.

Fristlose Kündigung wegen sexueller Belästigung i.S.v. § 3 Abs. 4 AGG
Thomas HansenRechtsanwalt
  • Fachanwalt für Steuerrecht
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