Nachfolgend ein Beitrag vom 22.3.2017 von Mittag, jurisPR-ArbR 12/2017 Anm. 2

Leitsätze

1. Das Umkleiden ist Teil der vom Arbeitnehmer geschuldeten und ihm zu vergütenden Arbeitszeit, wenn der Arbeitgeber das Tragen einer bestimmten Kleidung vorschreibt, die im Betrieb an- und abgelegt werden muss.
2. Steht fest (§ 286 ZPO), dass Umkleide- und Wegezeiten auf Veranlassung des Arbeitgebers entstanden sind, kann aber der Arbeitnehmer seiner Darlegungs- oder Beweislast für den zeitlichen Umfang, in dem diese erforderlich waren, nicht in jeder Hinsicht genügen, darf das Gericht die erforderlichen Umkleide- und damit verbundenen Wegezeiten nach § 287 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 ZPO schätzen.

A. Problemstellung

Es geht um die Abgrenzung vergütungspflichtiger Arbeitszeit. Gehört die Zeit, die Arbeitnehmer zum Anziehen von vorgeschriebener Arbeitskleidung und anschließendem innerbetrieblichen Weg zur Arbeitsstelle benötigen, zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit? Kann das Gericht bei Streit der Parteien über den Umfang der hierfür notwendigen Zeit diese Zeit schätzen?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die beklagte Arbeitgeberin vergütete als Arbeitszeit die Zeit ab Betätigen einer bestimmten Stempeluhr, die sich auf dem Betriebsgelände befand. Die Beschäftigten mussten sich allerdings schon vor dem Anstempeln auf das Betriebsgelände begeben: Sie hatten an einer Ausgabestelle die vorgeschriebene Hygienekleidung abzuholen, dann die Kleidung zu wechseln, und von dort den Weg zum Betriebsgebäude mit Stempeluhr zurückzulegen. Diese Zeiten vergütete die Arbeitgeberin nicht.
Dass eine Anweisung des Arbeitgebers zum Umkleiden im Betrieb allerdings doch dazu führt, dass die Umkleide- und ggf. erforderliche Wegezeiten zu vergüten sind, hatte der Senat bereits am 19.09.2012 (5 AZR 678/11) entschieden. Der vorliegende Sachverhalt veranlasste den Senat nicht zu einer anderen Bewertung.
Damit kam es für das Urteil auf die Höhe der Forderung, d.h. auf die Berechnung der Umkleide- und Wegezeiten an. Dazu enthielt der Parteivortrag genaue Beschreibungen zur Kleidung sowie zu den einzelnen Orten und den dazwischen liegenden Wegen. Die dafür notwendigen Zeiten waren mit 36 Minuten (Kläger) bzw. 24 Minuten (Beklagte) vorgetragen. Das Arbeitsgericht erhob Beweis und kam auf 27 Minuten. Bemerkenswert erscheint, dass die Kammer vor Ort den Umkleidevorgang einschließlich der zurückzulegenden Wege selber absolvierte und auf dieser Grundlage die erforderliche Zeit selber feststellte.
Dieses Vorgehen der Vorinstanzen hat das BAG gebilligt. Der Senat bezog sich auf seine Entscheidungen vom 10.04.2013 (5 AZR 122/12) und vom 25.03.2015 (5 AZR 602/13), wonach zwar die Darlegungs- und Beweislast zu erforderlichen Umkleide- und Wegezeiten bei der Arbeitnehmerseite liegt, der zeitliche Umfang aber gemäß § 287 ZPO durch das Gericht geschätzt werden kann. Erforderlich sind sog. Anknüpfungstatsachen, die von der beweisbelasteten Arbeitnehmerseite darzulegen und ggf. zu beweisen sind. Dann kann das Tatsachengericht in pflichtgemäßem Ermessen darüber befinden, ob der Mindestumfang benötigter Umkleide- und Wegezeiten gemäß § 287 ZPO geschätzt werden kann. Die Schätzung selbst überprüft das BAG (nur) auf Ermessensfehler. Solche Fehler lagen hier nicht vor, weil weder wesentliche Bemessungsfaktoren oder Variablen außer Acht gelassen noch sonst unrichtige oder unbewiesene Annahmen zugrunde gelegt wurden. Die Entscheidungen der Vorinstanzen hatten Bestand.

C. Kontext der Entscheidung

Die Abgrenzung, welche Zeit Arbeitszeit ist und welche Zeit dies nicht ist, berührt unterschiedliche Aspekte. So ist die Rechtsprechung des EuGH zum Begriff „Arbeitszeit“ i.S.d. Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 zu beachten, die allerdings auf die einzelstaatlichen Gepflogenheiten zurückverweist (EuGH, Urt. v. 10.09.2015 – C-266/14). Demnach definiert die Richtlinie als Arbeitszeit jede Zeitspanne, während derer ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder seine Aufgaben wahrnimmt, wobei der Begriff der Arbeitszeit im Gegensatz zur Ruhezeit zu sehen ist, da beide Begriffe einander ausschließen. Die europarechtliche Vorgabe schließt jedoch nicht aus, im einzelstaatlichen Recht je nach Rechtsgebiet leicht unterschiedliche Begriffe der Arbeitszeit zugrunde zu legen. So kann im deutschen (Arbeits-)Recht die für die Einhaltung von Ruhezeiten beachtliche Arbeitszeit im Sinne des AZG ggf. geringfügig anders zu bestimmen sein als die mitbestimmungspflichtige Arbeitszeit i.S.d. § 87 Abs. 1 BetrVG oder als die vergütungspflichtige Arbeitszeit im Sinne des jeweiligen Tarifvertrags i.V.m. § 611 BGB. Dabei führt die Qualifikation einer bestimmten Zeitspanne als Arbeitszeit nach BAG, Urt. v. 19.09.2012 – 5 AZR 678/11 nicht zwingend zu einer Vergütungspflicht und umgekehrt. Ebenfalls bestimmt sich der Arbeitszeitbegriff des § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG gemäß BAG, Beschl. v. 10.11.2009 – 1 ABR 54/08 nach dem Zweck des Mitbestimmungsrechts, die Interessen der Arbeitnehmer an der Lage ihrer Arbeitszeit und damit zugleich ihrer freien und für die Gestaltung ihres Privatlebens nutzbaren Zeit zur Geltung zu bringen. Aktuell dreht sich eine weitere Diskussion um den Arbeitszeitbegriff bei neuen Erscheinungsformen von Arbeit, wie z.B. beim mobilen Arbeiten mit Laptop und Mobiltelefon, die auch in der Freizeit etwa das Checken neuer E-Mails ermöglichen (vgl. Krause, Gutachten zum DJT 2016). Neben dieser eher den Angestelltenbereich betreffenden Entwicklung bleibt es bei den klassischen Fragen etwa zur Abgrenzung der Arbeitszeit in der Produktion, aber auch z.B. zur Einhaltung von Ruhezeiten für Schichtarbeiter vor bzw. nach Betriebsratssitzungen (BAG, Urt. v. 18.01.2017 – 7 AZR 224/15).
In Bezug auf Dienstkleidung sind die Technischen Regeln wie z.B. TRBA 250 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin beachtlich, wonach der Arbeitgeber vom Arbeitsplatz getrennte Umkleidemöglichkeiten für erforderliche Arbeitskleidung bereitstellen muss und die Beschäftigten diese zu nutzen haben. Die Rechtsprechung (BAG, Urt. v. 11.10.2000 – 5 AZR 122/99) stellte früher darauf ab, ob ein Tarifvertrag trotz Kenntnis der Tarifparteien von Umkleidezeiten insoweit eine Vergütungsregelung beinhaltete. Dagegen steht die Entscheidung des LArbG Hamburg (Urt. v. 06.07.2015 – 8 Sa 53/14; nachgehend BAG, Urt. v. 13.12.2016 – 9 AZR 574/15), wonach die Vergütung nicht durch Tarifvertrag ausgeschlossen werden kann, wenn das Umkleiden aus Gründen des Arbeitsschutzes geboten ist. Nach neuerer BAG-Rechtsprechung (BAG, Urt. v. 19.03.2014 – 5 AZR 954/12) ist jedenfalls trotz Tarifvertrags ohne entsprechende Regelung das Abholen von Dienstkleidung vergütungspflichtig, wenn das Abholen angeordnet wurde, mit der eigentlichen Tätigkeit unmittelbar zusammenhängt und ausschließlich den Interessen des Arbeitgebers dient. Gegebenenfalls können darüber hinaus auch ohne Anweisung des Arbeitgebers die Umkleide- und Wegezeiten eines Mitarbeiters eines Müllheizkraftwerks vergütungspflichtig sein, wenn die notwendige Schutzkleidung regelmäßig erheblich verschmutzt wird und der Weg zwischen Wohnung und Arbeitsplatz aus hygienischen Gründen nicht zumutbar in dieser Kleidung zurückgelegt werden kann (LArbG Frankfurt, Urt. v. 23.11.2015 – 16 Sa 494/15). Der richterliche Augenschein erwies sich auch hier als rechtsdienlich: Im Termin hatte der Kläger nach den Urteilsgründen „einen von ihm während der Arbeit getragenen Blaumann (Bl. 297 der Akten) vorgezeigt, der hellbraun eingestaubt war und binnen Minuten die Luft des Sitzungssaales deutlich wahrnehmbar nachteilig veränderte“.
Zur Feststellung des Umfangs der zu vergütenden Umkleide- und Wegezeit ist eine Schätzung (zwar durch das Gericht, aber) nicht durch die Parteien möglich: Nach BAG, Urt. v. 19.09.2012 – 5 AZR 678/11 hatte die Klägerin – eine Krankenschwester – selber die Umkleidezeit für eine spezielle OP-Dienstkleidung mit zweimal 15 Minuten Umkleide- und innerbetriebliche Wegezeit pro Arbeitstag geschätzt, und das wurde vom BAG nicht akzeptiert. Es verwies den Rechtsstreit zurück an das Landesarbeitsgericht und gab den Hinweis, dass sich der genaue Umfang der Arbeitszeit nach der für die Klägerin bei Ausschöpfung ihrer persönlichen Leistungsfähigkeit erforderlichen Zeit für das Umkleiden nebst Wegezeiten von der Umkleide zum OP-Bereich richtet. Das Landesarbeitsgericht erhielt die Aufgabe, diese Zeit ggf. nach ergänzendem Sachvortrag der Parteien auch zu den Variablen wie jahreszeittypischer Privatkleidung und Wartezeit auf Aufzüge und ggf. nach Einholung eines Sachverständigengutachtens festzustellen. Aufgrund fehlenden Vortrags zu Anknüpfungspunkten für eine Schätzung sah sich das LArbG Hamburg (Urt. v. 06.07.2015 – 8 Sa 53/14) gehindert, die erforderlichen Umkleide- und Wegezeiten gemäß § 287 ZPO zu schätzen. Schlüssiger und substantiierter Sachvortrag in den Tatsacheninstanzen ist auch nach BAG, Urt. v. 17.12.2014 – 5 AZR 962/12 Voraussetzung für einen Prozesserfolg. Dieser stellte sich dort nicht ein, weil die konkreten Abläufe einschließlich des Ortes des Umkleidens an dem Datum, für das die Arbeitszeit behauptet wird, unvollständig und nicht korrekt angegeben waren. Für einen bei Vorliegen der Voraussetzungen anberaumten Ortstermin hat das Gericht nach BAG, Beschl. v. 22.09.2016 – 6 AZN 376/16 sicherzustellen, dass auch unbeteiligte Personen Ort und Zeit der Weiterverhandlung ohne besondere Schwierigkeiten erfahren können, so dass im Regelfall Ort und Zeit des neuen Verhandlungsorts in öffentlicher Sitzung verkündet und durch einen Hinweis am Gerichtssaal bekannt gemacht werden müssen.

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Entscheidung zeigt der Praxis einen Weg zum Umgang mit den Schwierigkeiten der exakten Feststellung von Umkleide- und Wegezeiten. Voraussetzung ist, dass die Klägerseite die an sie gestellten Anforderungen erfüllt. Insoweit werden Prozessvertreter beachten, dass auch die Anknüpfungstatsachen für eine gerichtliche Schätzung nach § 287 ZPO vorzutragen sind, also etwa die konkreten Umstände zum Betreten des Betriebsgeländes, zum Ort des Umziehens und die detaillierte Beschreibung des Weges vom Umziehen zum Betriebsgebäude. Das korrespondiert mit § 371 ZPO, wonach Beweis durch Augenschein angetreten wird, indem ausdrücklich der Gegenstand des Augenscheins bezeichnet und die zu beweisende Tatsache angegeben wird. Werden diese Anforderungen erfüllt, kann das Gericht die Schätzung vornehmen.