Nachfolgend ein Beitrag vom 30.09.2015 von Kielkowski/Gliewe, jurisPR-ArbR 39/2015 Anm. 1

Leitsatz

Die Beschäftigung einer als Vertretungskraft für verschiedene in Elternzeit befindliche Lehrkräfte an verschiedenen Schulen über einen Zeitraum von 9,5 Jahren bei insgesamt 22 Vertragsänderungen indiziert eine rechtsmissbräuchliche Gestaltung der an sich zulässigen Vertretungsbefristung.
Allein, dass das beklagte Land Stellen nur im Umfang bewilligter Haushaltsmittel besetzen kann, steht dem Zustandekommen eine unbefristeten Arbeitsverhältnisses jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die konkrete Gestaltung von Befristungen in einem Vertretungsverhältnis sich objektiv als rechtsmissbräuchlich darstellt. Die Einhaltung der arbeitsrechtlichen Vorgaben wird durch eine zu beachtende Haushaltsdisziplin nicht verdrängt, vielmehr ist diese bei der Haushaltsplanung zu berücksichtigen.
Eine fehlende formale Qualifikation der Vertretungskraft ist als Rechtfertigung für die konkrete Handhabung der Befristungen jedenfalls dann nicht geeignet, wenn das Arbeitsverhältnis gleichwohl über einen Zeitraum von 9,5 Jahren durchgeführt wurde.
Der vielfältige Anfall von Vertretungen aufgrund Mutterschaft, Elternzeit und Sonderurlaub stellt keine „branchenspezifische Besonderheit“ im Schulbereich dar.

A. Problemstellung

Das Thema Kettenbefristung, also die mehrfache Sachgrundbefristung eines Arbeitsverhältnisses, ist nach wie vor ein Dauerbrenner bei deutschen Arbeitsgerichten. Nachdem diese Thematik mit der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Kücük“ (EuGH, Urt. v. 26.01.2012 – C-586/10) eine neue Qualität erlangt hatte, hat die darauf folgende Rechtsprechung des BAG mittlerweile zu einem gewissen Maß an Rechtssicherheit geführt, die, wenngleich noch immer nicht gänzlich befriedigend, so aber in der Praxis weitaus handhabbarer ist als zuvor. Neben dem ansonsten unveränderten Prüfungsprogramm bei Befristungskontrollen nimmt das BAG nun eine Missbrauchskontrolle nach den Grundsätzen des sog. institutionellen Rechtsmissbrauchs vor.
Das LArbG Hamm hatte sich vorliegend unter anderem mit der Frage zu beschäftigen, ob (im Ergebnis) 22 Vertragsänderungen über einen Zeitraum von 9,5 Jahren die Rechtsmissbräuchlichkeit einer Befristung indizieren.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Parteien stritten über die Wirksamkeit einer Befristungsabrede. Der Kläger, ein Diplom-Sportlehrer, war bei dem beklagten Land vom 09.12.2002 bis zum 11.04.2014 auf der Grundlage von insgesamt 24 aus Vertretungsgründen befristeten Verträgen unterschiedlicher Dauer und Stundenzahl beschäftigt. Er besaß kein Lehramt oder eine vergleichbare anerkannte Lehrbefähigung. Das letzte befristete Arbeitsverhältnis wurde am 22.08.2013 zur Elternzeitvertretung der Lehrerin C1 geschlossen. Tatsächlich wurde der Kläger jedoch im Rahmen eines Ringtausches als Klassenlehrer einer 8. Klasse sowie als Sportlehrer eingesetzt, während ein anderer Lehrer die Klasse der C1 übernahm.
Der Kläger vertrat die Auffassung, die letzte vereinbarte Befristung sei unwirksam. Es habe kein Sachgrund für die Befristung vorgelegen, da er tatsächlich nicht die Klasse der C1 übernommen habe. Zudem sei die Befristung rechtsmissbräuchlich. Die Dauer und die Anzahl der abgeschlossenen befristeten Verträge indiziere eine rechtsmissbräuchliche Verwendung des Befristungsinstituts.
Die Klage hatte sowohl vor dem Arbeitsgericht, als auch vor dem Landesarbeitsgericht Erfolg. Ein Befristungsgrund sei zwar gegeben, da dem Kläger die Aufgaben der C1 durch die Festlegung im Arbeitsvertrag gedanklich zugeordnet worden seien und die C1 auch die dem Kläger übertragenen Aufgaben hätte übernehmen können. Der Ringtausch sei nur deshalb erfolgt, weil der Kläger nicht vollständig die Aufgaben der C1 habe übernehmen können.
Jedoch sei die Befristung rechtsmissbräuchlich.
Das LArbG Hamm ging lediglich von einer Beschäftigungszeit vom 22.09.2004 bis zum 11.04.2014 aus. Frühere Beschäftigungszeiten seien wegen der danach erfolgten erheblichen Unterbrechungen nicht zu berücksichtigen gewesen. Der Zeitraum von 9,5 Jahren und die Anzahl von 22 verschiedenen Befristungen in diesem Zeitraum indiziere die Rechtsmissbräuchlichkeit, da die Grenzen des § 14 Abs. 2 TzBfG sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch nach der Anzahl der befristeten Arbeitsverträge mehrfach überschritten worden seien.
Zudem blieben viele der abgeschlossenen befristeten Verträge in ihrer Laufzeit hinter der voraussichtlichen Vertretungsdauer zurück.
Bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung sei die fehlende Lehramtsbefähigung des Klägers lediglich neutral zu bewerten. Das Land habe zwar grundsätzlich ein berechtigtes Interesse daran, nur Lehramtsinhaber zu beschäftigen, und es sei nach Art. 33 Abs. 2 GG auch angehalten, den besten Bewerber auszuwählen, jedoch ändere dies nichts daran, dass auch die unbefristete Einstellung von Bewerbern ohne Lehramtsbefähigung ausdrücklich möglich sei. Es sei nicht verständlich, warum der Kläger als Vertretungskraft in Betracht komme, wenn seine fehlende Qualifikation einer unbefristeten Einstellung entgegenstehen solle. Das Land setze sich in Widerspruch zu seinem eigenen Verhalten, wenn es den Kläger in Kenntnis der mangelnden Qualifikation 9,5 Jahre als Lehrer beschäftige. Aus dem Verhalten des Landes sei außerdem das Bestreben zu erkennen, eine Vertretungskraft soweit möglich annähernd vollzeitig einzusetzen. Dabei setze eine rechtsmissbräuchliche Handhabung der Befristung keine „bösen Absichten“ voraus.
Die indizierte Rechtsmissbräuchlichkeit habe das Land auch nicht widerlegt. Es könne einer rechtsmissbräuchlichen Gestaltung nicht entgegenstehen, dass aufgrund der Besonderheiten des Schulbetriebs in jedem Schuljahr in nicht vorhersehbarem und planbarem Umfang Vertretungsbedarf aufgrund von nicht vorhersehbarem Sonderurlaub, Erziehungsurlaub etc. entstehe. Sonderurlaub, Erziehungsurlaub und dergleichen seien in keinem Betrieb und keiner Branche vorhersehbar und kommen in jeder Branche vor, weshalb es sich nicht um eine branchentypische Besonderheit handele (a.A. LArbG Düsseldorf, Urt. v. 17.07.2013 – 7 Sa 450/13). Es sei weder nachvollziehbar dargelegt worden, dass die Befristungen auf zwingenden haushaltsrechtlichen Gründen beruhten, noch sei dies im Ergebnis relevant; eine Missbrauchskontrolle sei auch dann geboten, wenn die Voraussetzungen für eine Haushaltsbefristung an sich gegeben wären (BAG, Urt. v. 13.02.2013 – 7 AZR 225/11). Soweit das beklagte Land anführte, dass es das Risiko eines unbeabsichtigten unbefristeten Arbeitsverhältnisses trage, sei dies richtig. Hierbei handele es sich jedoch um eine Auswirkung des typischerweise von ihm zu tragenden Betriebsrisikos. Die Einhaltung der arbeitsrechtlichen Vorgaben werde durch eine zu beachtende Haushaltsdisziplin nicht verdrängt; vielmehr seien diese bei der Haushaltsplanung zu berücksichtigen. Gegen die Entscheidung ist Revision eingelegt (Az. des BAG: 7 AZR 420/15).
C. Kontext der Entscheidung
I. Die Entscheidung des LArbG Hamm steht auf ganzer Linie mit der Rechtsprechung des BAG (vgl. hierzu nur BAG, Urt. v. 29.04.2015 – 7 AZR 310/13; BAG, Urt. v. 10.07.2013 – 7 AZR 761/11; BAG, Urt. v. 13.02.2013 – 7 AZR 225/11; BAG, Urt. v. 18.07.2012 – 7 AZR 443/09; BAG, Urt. v. 18.07.2012 – 7 AZR 783/10). In Umsetzung der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Kücük“ (EuGH, Urt. v. 26.01.2012 – C-586/10) nimmt das BAG nunmehr in ständiger Rechtsprechung bei der Überprüfung der Wirksamkeit einer Kettenbefristung neben dem Erfordernis des Vorliegens eines Sachgrundes nach § 14 Abs. 1 TzBfG in begründeten Fällen zusätzlich eine umfassende Missbrauchskontrolle nach den Grundsätzen des institutionellen Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) vor.
Hierbei sollen alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Gesamtdauer und die Zahl der mit derselben Person zur Verrichtung der gleichen Arbeit geschlossenen aufeinanderfolgenden befristeten Verträge zu berücksichtigen sein (BAG, Urt. v. 13.02.2013 – 7 AZR 225/11). Als „grobe Orientierungshilfen“ dienen dabei insbesondere die Gesamtdauer und die Anzahl der Vertragsverlängerungen (vgl. BAG, Urt. v. 10.07.2013 – 7 AZR 761/11 Rn. 29 ff.):
In einer ersten Prüfungsstufe ist anhand der Gesamtdauer und der Anzahl der Vertragsverlängerungen zu beurteilen, ob überhaupt Anlass zur vertieften Missbrauchskontrolle besteht. Dabei geht das BAG von der Grundannahme aus, dass jedenfalls der Bereich, in dem eine sachgrundlose Befristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG zulässig ist (maximal zwei Jahre, maximal drei Verlängerungen) einen unproblematischen Bereich darstellt.
Jenseits dessen wird mit Blick auf die „Prüfdichte“ einer Missbrauchskontrolle abgestuft:
Überschreiten die befristeten Arbeitsverträge die in § 14 Abs. 2 TzBfG definierten Grenzen für eine sachgrundlose Befristung „nicht um ein Mehrfaches“, besteht – ohne weitere Anhaltspunkte – kein gesteigerter Anlass zur Missbrauchskontrolle. Entsprechend wurde etwa die ununterbrochene Gesamtbeschäftigungsdauer von weniger als vier Jahren und vier befristen Arbeitsverträgen als im Hinblick auf den institutionellen Rechtsmissbrauch grundsätzlich unproblematisch bewertet (BAG, Urt. v. 10.07.2013 – 7 AZR 761/11).
Werden diese Grenzen „alternativ oder kumulativ mehrfach überschritten“, ist eine umfassende Missbrauchskontrolle geboten, wobei dann der Arbeitnehmer weitere für einen Missbrauch sprechende Umstände vorzutragen hat. Entsprechend wurde bei einer knapp mehr als fünfeinhalbjährigen Dauer und 13, nach den Angaben der Klägerin überwiegend auf Vertretungsbedarf gestützten, befristeten Verträgen ein Missbrauch nicht von vornherein ausgeschlossen, aber auch nicht als indiziert angesehen (vgl. BAG, Urt. v. 13.02.2013 – 7 AZR 225/11).
Werden die Grenzen schließlich „besonders gravierend überschritten“, kann ein Missbrauch indiziert sein. Einen solchen Fall nahm das BAG bei einer Gesamtdauer von über elf Jahren und 13 befristeten Arbeitsverträgen (BAG, Urt. v. 18.07.2012 – 7 AZR 443/09) bzw. bei einer Gesamtdauer von ca. 11 Jahren und sechs befristeten Arbeitsverträgen (BAG, Urt. v. 12.11.2014 – 7 AZR 891/12) an.
Dann liegt es an dem Arbeitgeber, die Annahme des Gestaltungsmissbrauchs durch die Aneinanderkettung von befristeten Arbeitsverträgen zu entkräften. Im Rahmen einer derartigen Tiefenprüfung zu berücksichtigende Anhaltspunkte für einen Rechtsmissbrauch können sein, ob der Arbeitnehmer stets auf demselben Arbeitsplatz mit denselben Aufgaben beschäftigt wird, ob ein ständiger Vertretungsbedarf besteht oder ob trotz der Möglichkeit einer dauerhaften Einstellung immer wieder auf befristete Verträge zurückgegriffen wird. Zudem ist zu beachten, ob und in welchem Maße die vereinbarte Befristungsdauer zeitlich hinter dem zu erwartenden Vertretungsbedarf zurückbleibt. Außerdem können branchenspezifische Besonderheiten von Bedeutung sein.
II. Vor diesem Hintergrund war die Entscheidung des LArbG Hamm nur folgerichtig. Es ist, im Anschluss an die Vorinstanz, davon ausgegangen, dass mit Blick auf Anzahl und Dauer der Befristungen eine Rechtsmissbräuchlichkeit indiziert war. Möglicherweise entlastende, relevante Fakten wurden nicht vorgetragen. Im Gegenteil konnten die Befristungen auch in ihrer Dauer gerade nicht durch den jeweiligen Vertretungsbedarf erklärt werden.
D. Auswirkungen für die Praxis
I. Die vorliegende Entscheidung ordnet sich in den Rahmen der Rechtsprechung des BAG ein und verhilft der Praxis zu einem weiteren Puzzlestein zur Bestimmung der Prüfdichte einer Missbrauchskontrolle. Sie konsolidiert damit die in mittlerweile recht zahlreichen Entscheidungen herausgearbeiteten und in der Praxis handhabbaren Kriterien zur Beurteilung von Einzelfällen.
II. Mit Blick auf den Umstand, dass nach aktueller Rechtsprechung erst bei recht extensiven Befristungsketten – sowohl in der Gesamtdauer als auch in der Anzahl der Befristungen – Anlass für eine Missbrauchskontrolle gesehen wird, ist erklärbar, dass das Thema „Missbrauch von Kettenbefristungen“ (anders als es etwa im Rahmen sachgrundloser Befristungen der Fall ist) in der Privatwirtschaft bisher keine nennenswerte Bedeutung erlangt hat und wohl auch nicht erlangen wird. Derartige Befristungen bewegen sich in aller Regel in dem unproblematischen Bereich außerhalb einer vertieften Missbrauchskontrolle. Private Arbeitgeber, die nicht an variante finanz- und haushaltspolitische Vorgaben gebunden sind, werden häufig ein Interesse daran haben, Arbeitnehmer, die sich bewährt haben, auf Dauer an das Unternehmen zu binden.
III. Der institutionelle Rechtsmissbrauch bei Sachgrundbefristungen ist im Wesentlichen ein Problem öffentlicher Arbeitgeber, insbesondere an öffentlichen Schulen. In diesem Rahmen ist bei der Einstellung von Lehrkräften zur Deckung eines vorübergehenden Vertretungsbedarfs darauf zu achten, dass nicht nur das wegfallende und befristet neu vergebene Stundendeputat übereinstimmen, sondern auch, dass sich Laufzeit der geschlossenen befristeten Verträge und voraussichtliche Vertretungsdauer entsprechen.