Nachfolgend ein Beitrag vom 12.9.2018 von Löbig, jurisPR-ArbR 37/2018 Anm. 4
Orientierungssatz
Zum Anspruch auf bezahlte Freistellung am Rosenmontag beim öffentlichen Arbeitgeber aufgrund betrieblicher Übung (hier: verneint).
A. Problemstellung
In den Karnevalshochburgen der Bundesrepublik herrscht am Rosenmontag bekanntlich Ausnahmezustand. Viele Geschäfte, Ämter und Behörden operieren mit verkürzten Öffnungszeiten. Ein Teil der Belegschaft hat frei und darf den Höhepunkt der Karnevalszeit feiern; der andere Teil muss arbeiten. Das birgt von vornherein hohes Konfliktpotential.
Das LArbG Hamm hatte vorliegend darüber zu urteilen, ob ein Arbeitnehmer, der über viele Jahre hinweg an Rosenmontagen bezahlt freigestellt worden ist, von seiner Arbeitgeberin verlangen kann, auch künftig an Rosenmontagen nicht zur Arbeit erscheinen zu müssen, ohne dass sich dies auf den Stand seines Arbeitszeitkontos oder seine Vergütung auswirkt.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Arbeitsvertragsparteien streiten darüber, ob die beklagte Arbeitgeberin – früher eine Anstalt des öffentlichen Rechts, seit dem 01.01.2002 eine Aktiengesellschaft – verpflichtet ist, den Kläger (weiterhin) an Rosenmontagen bezahlt freizustellen.
Unstreitig ist, dass die Arbeitgeberin den Kläger jedenfalls in den Jahren 1992 bis 2016 an allen Rosenmontagen ohne Erklärung eines irgendwie gearteten Vorbehalts von seiner Verpflichtung zur Erbringung der Arbeitspflicht entbunden und ihm jeweils die Sollarbeitszeit gutgeschrieben hat. Der Grund für die Arbeitsbefreiung des Klägers soll – bezogen auf den Zeitraum vor dem Rechtsformwechsel der Arbeitgeberin – in einer Dienstvereinbarung liegen, deren konkreter Inhalt vor Gericht streitig blieb. Für den Zeitraum ab dem 01.01.2002 steht hingegen fest, dass die bezahlte Freistellung an Rosenmontagen auf eine Betriebsvereinbarung zurückzuführen ist, die Folgendes regelt: „Für Brauchtumstage, die auf die Wochentage Montag bis Freitag entfallen, wird die tägliche Sollarbeitszeit gutgeschrieben.“ Nicht im Streit steht ferner, dass die Betriebsparteien diese Betriebsvereinbarung am 24.01.2017 dahingehend abgeändert haben, dass im Betrieb fortan an Rosenmontagen gearbeitet wird.
Das ArbG Münster hat die Klage abgewiesen und dabei offengelassen, ob dem Kläger der von ihm behauptete und in die Zukunft gerichtete Anspruch auf Gewährung (bezahlter) Arbeitsbefreiung an Rosenmontagen aufgrund betrieblicher Übung zusteht: „Selbst wenn ein Anspruch aufgrund einer betrieblichen Übung entstanden sein sollte, ist er jedenfalls aufgrund der Betriebsvereinbarung vom 24.01.2017 aufgehoben worden“, da „betriebliche Übungen als allgemeine Arbeitsbedingungen mit kollektivem Bezug betriebsvereinbarungsoffen ausgestaltet“ sind und „es insoweit auf einen kollektiven Günstigkeitsvergleich nicht mehr ankommt.“ (ArbG Münster, Urt. v. 03.02.2017 – 4 Ca 1203/16). Der Kläger griff das erstinstanzliche Urteil in der Berufung mit der Rechtsprechung des Zehnten Senats des BAG (Urt. v. 18.03.2009 – 10 AZR 281/08 Rn. 12 ff.) an, wonach eine betriebliche Übung zwar durch eine vom Arbeitnehmer ausdrücklich akzeptierte Vertragsänderung bzw. eine rechtmäßige Änderungskündigung beendet werden kann, nicht aber durch eine Betriebsvereinbarung. Den Betriebsparteien sprach er mit Verweis auf das Günstigkeitsprinzip eine entsprechende Rechtsetzungsmacht ab.
Das LArbG Hamm hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Das Landesarbeitsgericht stützt seine Urteilsbegründung für die Zeit nach dem 01.01.2002 auf § 77 Abs. 1 BetrVG und die mit dem Betriebsrat abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen. Ein Anspruch aus betrieblicher Übung könne nur entstehen, wenn keine andere kollektiv- oder individualrechtliche Anspruchsgrundlage für die Gewährung der Vergünstigung bestehe. Eine betriebliche Übung entstehe damit gerade nicht, wenn die Arbeitgeberin zu den zu ihrer Begründung angeführten Verhaltensweisen durch andere Rechtsgrundlagen verpflichtet war. Das war hier der Fall.
Für die Zeit vor dem Rechtsformwechsel der Arbeitgeberin greift das Landesarbeitsgericht auf die ständige Rechtsprechung des BAG zur Einschränkung der Grundsätze der betrieblichen Übung im öffentlichen Dienst zurück (BAG, Urt. v. 15.05.2012 – 3 AZR 610/11 Rn. 75): „Wegen ihrer Bindung an Anweisungen vorgesetzter Dienststellen, Verwaltungsrichtlinien, Verordnungen und gesetzliche Regelungen, vor allem aber durch die Festlegungen des Haushaltsplans sind diese Arbeitgeber – anders als private Arbeitgeber – gehalten, die Mindestbedingungen des Dienst- und Tarifrechts sowie die Haushaltsvorgaben bei der Gestaltung von Arbeitsverhältnissen zu beachten. Sie können daher bei der Schaffung materieller Dienst- und Arbeitsbedingungen nicht autonom wie Unternehmer der privaten Wirtschaft handeln. Im Zweifel wollen sie lediglich Normvollzug betreiben.“ Das Landesarbeitsgericht folgert hieraus, der Kläger habe davon ausgehen müssen, dass ihm die Beklagte lediglich die Leistungen gewähren wollte, zu denen sie rechtlich verpflichtet war. Der Kläger durfte ohne besondere Anhaltspunkte, die ein anderes Ergebnis unter dem Gesichtspunkt des besonderen Vertrauensschutzes hätten begründen können, hier aber nicht vorlagen, und trotz der langjährigen Gewährung von überobligatorischen Vergünstigungen nicht darauf vertrauen, die in der Vergangenheit gewährte bezahlte Arbeitsbefreiung am Rosenmontag unbefristet weitergewährt zu bekommen.
Das Urteil ist rechtskräftig. Die zugelassene Revision (BAG, Beschl. v. 24.10.2017 – 1 AZR 413/17) wurde zurückgenommen.
C. Kontext der Entscheidung
Die besprochene Entscheidung gibt Anlass weiter über die hier streitentscheidende Rechtsfrage zu reflektieren, allerdings nicht in individual- und vergütungsrechtlicher Hinsicht, sondern im kollektivrechtlichen Kontext von Einigungsstellen nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG, die über die Ausgestaltung von Personaleinsatzplänen zu entscheiden haben.
Bleiben die Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage oder die Lage der täglichen Arbeitszeiten eines Beschäftigten über einen längeren Zeitraum (mitbestimmt) unverändert, weckt das nicht selten die Erwartung des Betroffenen, in Folge des Entstehens einer betrieblichen Übung oder in Folge der Konkretisierung seiner Arbeitsbedingungen verlangen zu können, in künftigen Personaleinsatzplänen entsprechend der bisherigen Praxis eingeplant zu werden. Teilt der Betriebsrat diese Rechtsauffassung, führt das regelmäßig in die Einigungsstelle, wenn sich die Arbeitgeberin weigert, diesem Regelungsanliegen zu entsprechen.
In diesen Sachverhaltskonstellationen hat die Einigungsstelle bei ihrer Entscheidungsfindung gemäß § 76 Abs. 5 Satz 3 BetrVG zu berücksichtigen, dass der Arbeitnehmer „allein daraus, dass der Arbeitgeber eine bestimmte Personaleinsatzplanung über einen längeren Zeitraum hinweg beibehält, […] nicht auf den Willen des Arbeitgebers schließen [kann], diese Planung auch künftig unverändert beizubehalten und sich gegenüber den Arbeitnehmern insoweit individualvertraglich zu binden“ (BAG, Urt. v. 13.06.2007 – 5 AZR 849/06 Rn. 18). Sie darf auch nicht unberücksichtigt lassen, dass „allein aus der Beibehaltung einer betrieblichen Regelung hinsichtlich Ort und Zeit der Arbeitsleistung über einen längeren Zeitraum hinweg […] ein Arbeitnehmer nach Treu und Glauben nicht auf den Willen des Arbeitgebers schließen [kann], diese Regelung auch künftig unverändert beizubehalten“ (BAG, Urt. v. 23.06.1992 – 1 AZR 57/92 Rn. 32).
Vielmehr muss die Einigungsstelle prüfen, ob im vorliegenden Einzelfall „besondere Umstände“ ein schutzwürdiges Vertrauen des Arbeitnehmers hinsichtlich der Fortschreibung seiner bisherigen Arbeitszeiten im Rahmen der Personaleinsatzplanung begründen können (vgl. dazu BAG, Urt. v. 07.12.2005 – 5 AZR 535/04 Rn. 17); das LArbG Hamm spricht insoweit von Anhaltspunkten, die einen „besonderen Vertrauensschutz“ (Rn. 49) begründen können. Der bloße Zeitablauf genügt hierfür nicht; dies hat der Fünfte Senat des BAG ausdrücklich festgehalten: Es muss sich um „besondere Umstände [handeln], aus denen sich ergibt, dass der Arbeitnehmer nicht in anderer Weise eingesetzt werden soll“ (BAG, Urt. v. 24.04.1996 – 5 AZR 1032/94 Rn. 39).
Können solche „besonderen Umstände“ nicht dargelegt werden, bedarf es in der Einigungsstelle keiner Entscheidung dazu, ob betriebliche Übungen (generell) als „betriebsvereinbarungsoffen“ zu werten sind und durch (ungünstigere) kollektivrechtliche Regelungen abgelöst werden können. Erlaubt sei hier jedoch der Hinweis, dass diese höchst komplexe Rechtsfrage meiner Wahrnehmung nach in der Rechtsprechung des BAG bei Weitem noch nicht so eindeutig beantwortet worden ist, wie das ArbG Münster dies in erster Instanz (Rn. 24) suggeriert hat. Dies zeigt sich z.B. daran, dass der Zehnte Senat des BAG einen „durch betriebliche Übung begründeten Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers ohne entsprechende Abreden der Arbeitsvertragsparteien nicht grundsätzlich [für] betriebsvereinbarungsoffen [hält]“ (BAG, Urt. v. 05.08.2009 – 10 AZR 483/08 Rn. 11), während der Dritte Senat meint, dass jedenfalls eine Versorgungsregelung, deren Geltung auf eine betriebliche Übung zurückzuführen ist, durch eine Betriebsvereinbarung abgelöst werden kann (BAG, Urt. v. 23.02.2016 – 3 AZR 44/14 Rn. 47 ff.).
D. Auswirkungen für die Praxis
Die Kernbotschaft des LArbG Hamm lautet: „Gewohnheit“ und „Gewohnheitsrecht“ sind zwei Paar Schuhe. Solange eine bestimme Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage oder eine bestimmte Lage der täglichen Arbeitszeit nicht fester Bestandteil des Arbeitsvertrages geworden sind, muss der Beschäftigte damit rechnen, künftig auch zu anderen Zeiten zur Arbeit eingeteilt zu werden. Die Entscheidung liegt auf einer Linie mit der ständigen Rechtsprechung des Fünften Senats des BAG und findet auch in der Spruchpraxis der Landesarbeitsgerichte breite Unterstützung (vgl. z.B. zum Anspruch auf Einsatz in Nachtarbeit aufgrund betrieblicher Übung: LArbG Frankfurt, Urt. v. 03.10.1998 – 9 Sa 1325/98).
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