Nachfolgend ein Beitrag vom 5.12.2018 von Boemke, jurisPR-ArbR 49/2018 Anm. 4

Leitsatz

Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall kann in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns einer Ausschlussfrist nicht unterworfen werden.

A. Problemstellung

Ist ein Arbeitnehmer unverschuldet arbeitsunfähig erkrankt, steht ihm ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu (§§ 3 Abs. 1 Satz 1, 4 Abs. 1 EFZG). Dieser Anspruch konnte nach früherer Rechtslage verfallen, wenn er nicht innerhalb einer wirksam vereinbarten Frist geltend gemacht wurde. Nach der Rechtsprechung des BAG ist der Anspruch auf Entgeltfortzahlung (ohne Arbeitsleistung) kein Mindestlohnanspruch. Gleichwohl prüft der Fünfte Senat des BAG vorliegend, ob dieser Anspruch seit dem 01.01.2015 in Höhe des Mindestlohns nicht mehr aufgrund einer Ausschlussfrist verfallen kann. Zentrale Frage ist hierbei, ob die Unabdingbarkeit nach § 3 Satz 1 MiLoG mittelbar auch Einfluss auf den Entgeltfortzahlungsanspruch hat.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Parteien streiten über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Der Kläger war bei dem beklagten Bauunternehmen beschäftigt. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 17.09.2015 ordentlich zum 31.10.2015. Der Kläger meldete sich nach Erhalt der Kündigung arbeitsunfähig krank. Für September zahlte die Beklagte dem Kläger die geschuldete Vergütung. Für Oktober verweigerte sie die Zahlung. Der Kläger forderte die Beklagte zur Zahlung des Arbeitsentgelts für Oktober mit einem der Beklagten am 18.01.2016 zugestellten Schriftsatz auf. Die Beklagte hatte die Zahlung verweigert, weil nach dem einschlägigen § 14 Nr. 1 BRTV-Bau Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis verfallen, wenn sie nicht innerhalb von zwei Monaten nach Fälligkeit schriftlich geltend gemacht werden. Der Kläger macht geltend, dass diese tarifliche Regelung nach § 3 MiLoG unwirksam ist. Das Arbeitsgericht hat der Klage teilweise stattgegeben und dem Kläger einen Anspruch in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns zugesprochen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (LArbG Frankfurt, Urt. v. 04.05.2017 – 19 Sa 1172/16).
Die Revision der Beklagten hatte vor dem BAG keinen Erfolg.
Das BAG legt dar, dass der Kläger einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 3 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 EFZG habe. § 1 Abs. 2 i.V.m. den §§ 20, 1 Abs. 1 MiLoG sei nicht einschlägig, weil Mindestlohn nur für geleistete Arbeitsstunden verlangt werden könne (BAG, Urt. v. 25.05.2016 – 5 AZR 135/16 Rn. 19; seither st. Rspr., vgl. etwa BAG, Urt. v. 20.09.2017 – 10 AZR 171/16 Rn. 24; BAG, Urt. v. 06.12.2017 – 5 AZR 699/16 Rn. 15 ff.).
Der Anspruch sei aber nach § 3 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 EZFG, deren Voraussetzungen unstreitig vorlagen, entstanden und auch nicht nach § 14 Nr. 1 BRTV-Bau verfallen. Zwar habe der Kläger die dort geregelte zweimonatige Ausschlussfrist nicht gewahrt; diese ist aber nach Ansicht des BAG gemäß § 3 Abs. 1 MiLoG in Höhe des Mindestlohns unwirksam. Nicht nur arbeitsvertragliche, sondern auch tarifvertragliche Ausschlussfristen, die den Mindestlohn nicht ausnehmen, verstoßen gegen § 3 Satz 1 MiLoG. Die Unwirksamkeitsfolge träte aber nur „insoweit“ der Anspruch beeinträchtigt wird ein. Das führe dazu, dass tarifvertragliche Verfallklauseln nur insoweit unwirksam sind, wie der gesetzliche Mindestlohn betroffen ist. Im Übrigen seien sie wirksam.
Zwar sei der Entgeltfortzahlungsanspruch bei Krankheit kein Mindestlohnanspruch und werde daher nicht unmittelbar von § 3 Satz 1 MiLoG erfasst, der lediglich den Anspruch auf Mindestlohn für geleistete Arbeit betreffe; nach dem EFZG seien Arbeitnehmerinnen im Krankheitsfalle aber so zu stellen, wie sie im Falle der Erbringung der Arbeitsleistung gestanden hätten. „Verpflichtet aber ein Entgeltfortzahlungstatbestand den Arbeitgeber, den Arbeitnehmer so zu stellen, als hätte er gearbeitet, und gestaltet der Mindestlohn den Entgeltfortzahlungsanspruch mit, gebietet es der Schutzzweck des § 3 Satz 1 MiLoG, nach Maßgabe dieser Norm den Entgeltfortzahlungsanspruch in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns entsprechend zu sichern. Denn anderenfalls stünde der Arbeitnehmer entgegen dem Gesetzesbefehl schlechter als er bei tatsächlicher Arbeit gestanden hätte“ (Rn. 33).
Des Weiteren legt das BAG dar, dass es keinen Verstoß gegen die Tarifautonomie darstellt, wenn Tarifverträge den Beschränkungen des § 3 Satz 1 MiLoG unterworfen werden. Es stelle zwar einen Eingriff in das durch Art. 9 Abs. 3 GG gesicherte Normsetzungsrecht der Tarifvertragsparteien dar. Dieser sei aber dadurch gerechtfertigt, weil er die Existenzsicherung der Arbeitnehmer und die Entlastung der sozialen Sicherungssysteme in verhältnismäßiger Weise bezwecke.

C. Kontext der Entscheidung

Nach der Rechtsprechung des BAG unterfallen Ansprüche auf Entgeltfortzahlung nicht dem MiLoG (abweichend z.B. Boemke, JuS 2015, 385, 389; Boemke, jurisPR-ArbR 24/2015 Anm. 3 und jurisPR-ArbR 32/2015 Anm. 3 unter D; in diesem Sinne auch Düwell, Ausschuss-Drs. 18 (11) 148, 73). Daher hätte es nahegelegen, diese von der Anwendung des § 3 Satz 1 MiLoG auszunehmen. Da der Mindestlohnanspruch aber den Entgeltfortzahlungsanspruch gestalte, soll es nach Auffassung des BAG der Schutzzweck von § 3 Satz 1 MiLoG gebieten, den Entgeltfortzahlungsanspruch in dieser Höhe zu sichern. Die Anwendbarkeit von § 3 Satz 1 MiLoG auf Entgeltfortzahlungsansprüche war in der Literatur bisher noch nicht intensiv diskutiert worden (vgl. aber Boemke, JuS 2015, 385, 389 und jurisPR-ArbR 24/2015 Anm. 3 unter D., wonach bei Nichtgeltung des MiLoG für Entgeltfortzahlungsansprüche Ausschlussfristen gelten sollen), das LArbG Hamm hatte in seinem Urteil vom 01.06.2018 (16 Sa 1442/17) einen abweichenden Standpunkt eingenommen. Das BAG betritt mit seiner Entscheidung somit weitgehend unbeackertes Neuland. Die zentrale Begründung der Entscheidung zu diesem Kernproblem besteht aus sieben Zeilen.
Dass wegen des Lohnausfallprinzips der Mindestlohnanspruch bei der Höhe des Entgeltfortzahlungsanspruchs berücksichtigt werden muss, ist zutreffend und überzeugend. Dies macht den Entgeltfortzahlungsanspruch in Höhe des Mindestlohns nach der Konzeption des BAG aber noch nicht zu einem Mindestlohnanspruch. Hiervon geht das BAG weiter aus. Dann trägt aber der Gedanke des Schutzzwecks von § 3 Satz 1 MiLoG, den der Fünfte Senat des BAG zur Begründung anführt, nicht. Dieser ist auf den Mindestlohnanspruch beschränkt. Andere Ansprüche werden hiervon nicht erfasst. Der Mindestlohnanspruch stellt wegen des Lohnausfallprinzips einen bloßen Berechnungsfaktor dar. Auch wenn inzwischen geklärt ist, dass der Mindestlohnanspruch selbst nicht von einer Ausschlussklausel erfasst sein darf (BAG, Urt. v. 18.09.2018 – 9 AZR 162/18; Boemke, JuS 2015, 385, 392; Grimm/Linden, ArbRB 2014, 339, 340; Franzen in: ErfKomm, 19. Aufl. 2019, § 3 MiLoG Rn. 2 ff. m.w.N.), enthält weder Wortlaut der Norm noch Sinn und Zweck der Regelung Anhaltspunkte dafür, dass andere als Mindestlohnansprüche erfasst sein sollen. Dies ist auch Konsequenz der Auffassung des BAG, wonach der Mindestlohnanspruch ein eigenständiger gesetzlicher, neben den aus Vertrag bestehenden Anspruch tritt. Der Entgeltfortzahlungsanspruch, der gerade kein Mindestlohnanspruch ist, wird danach weder unmittelbar noch mittelbar erfasst.
Zentrales Argument ist damit nicht der Schutzzweck von § 3 Satz 1 MiLoG, sondern der Entgeltfortzahlungstatbestand, der den Arbeitgeber verpflichten soll, „den Arbeitnehmer so zu stellen, als hätte er gearbeitet“ (Besprechungsurteil Rn. 33). Diese Interpretation des Entgeltfortzahlungstatbestands ergibt sich für das EFZG so nicht aus den gesetzlichen Bestimmungen. Für diese tragenden Ausführungen fehlt daher ein normativer Anknüpfungspunkt. § 3 Abs. 1 EFZG statuiert lediglich die Pflicht zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und die Dauer des anspruchsbegründenden Zeitraums, ohne die nähere Ausgestaltung festzulegen. § 4 Abs. 1 EFZG legt das Entgeltausfallprinzip hinsichtlich der Höhe fest. Beide Regelungen sind gemäß § 12 EFZG unabdingbar. Allerdings bedingt die tarifvertragliche Ausschlussklausel weder den Anspruch als solchen ab noch modifiziert er seine Höhe, sondern gestaltet ausschließlich seinen zeitlichen Bestand. Der Entgeltfortzahlungsanspruch kann trotz seiner Unabdingbarkeit einer Ausschlussfrist unterworfen werden (BAG, Urt. v. 25.05.2005 – 5 AZR 572/04 Rn. 12). Ein Verstoß gegen § 12 EFZG liegt also nicht vor. Das Entgeltausfallprinzip stellt somit lediglich „sicher, dass der Arbeitnehmer während des Zeitraums der Arbeitsverhinderung nicht weniger, aber auch nicht mehr verdient als er verdient hätte, wenn er gearbeitet“ hätte (Vogelsang, RdA 2018, 110, 111). Es bezieht sich auf die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts, nicht aber auf dessen Sicherung und Fortbestand.

D. Auswirkungen für die Praxis

Das BAG nimmt eine geltungserhaltende Reduktion der tarifvertraglichen Klausel vor. Es lässt den Anspruch auf Entgeltfortzahlung in der den Mindestlohn übersteigenden Höhe durch die Ausschlussfrist verfallen. Das bedeutet, dass es hinsichtlich der Tarifvertragsgestaltung nicht nötig ist, eine Ausschlussfrist zu formulieren, die den Anspruch bei nicht rechtzeitiger Geltendmachung explizit auf den Mindestlohn beschränkt. Nach § 310 Abs. 4 BGB sind Tarifverträge von der AGB-Kontrolle ausgenommen. Die vorliegend im Tarifvertrag gewählte, alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und mit diesem in Verbindung stehenden Ansprüche erfassende Verfallklausel bringt also keinen Nachteil gegenüber einer an die vorliegende Entscheidung angepassten Formulierung.
Sofern es sich nicht um eine tarifvertragliche, sondern eine arbeitsvertragliche Ausschlussfrist handelt, sieht die Rechtslage aber anders aus. Werden gesetzliche Mindestlohnansprüche nicht ausdrücklich ausgenommen, führt dies nach der Rechtsprechung des BAG wegen eines Verstoßes gegen das Transparenzgebot zur Unangemessenheit und damit Unwirksamkeit der gesamten Ausschlussklausel (BAG, Urt. v. 18.09.2018 – 9 AZR 162/18). Dies muss auf Grundlage der vorliegenden Entscheidung konsequenterweise auch dann gelten, wenn die Klausel nicht Entgeltfortzahlungsansprüche in Höhe des Mindestlohns vom Verfall ausnimmt. Zwar liegt kein unmittelbarer Verstoß gegen § 3 Satz 1 MiLoG vor; der vom BAG in der Entscheidung vom 18.09.2018 (9 AZR 162/18) genannte Gedanke der Intransparenz greift aber auch hier. Für die Arbeitsvertragsgestaltung ergeben sich hierdurch neue Herausforderungen. Da der Entgeltfortzahlungsanspruch kein Mindestlohnanspruch ist, reicht es nicht aus, wenn Mindestlohnansprüche vom Verfall ausgenommen werden. Vorzugswürdig ist eine Formulierung, wonach „Lohnansprüche in Höhe des Mindestlohns“ nicht verfallen.

Kein Verfall des Entgeltfortzahlungsanspruchs in Höhe des Mindestlohns wegen Fristablaufs
Danuta EisenhardtRechtsanwältin
  • Fachanwältin für Familienrecht
  • Fachanwältin für Arbeitsrecht
  • Fachanwältin für Verkehrsrecht

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