Nachfolgend ein Beitrag vom 18.1.2017 von Busch, jurisPR-ArbR 3/2017 Anm. 5
Orientierungssatz zur Anmerkung
Die nur „hohe Wahrscheinlichkeit“ einer Verletzung der Vertragspflichten kann eine fristlose Verdachtskündigung nicht begründen.
A. Problemstellung
Das LArbG Hamm hat die Frage entschieden, ob die Feststellung einer „hohen Wahrscheinlichkeit“ einer schwerwiegenden Verletzung des Arbeitsvertrags durch ein Gutachten die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zur Kündigung eines Betriebsratsmitglieds rechtfertigen kann.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
In einem Beschlussverfahren ging es um die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zur außerordentlichen Kündigung eines Betriebsratsmitglieds.
Der Arbeitgeber betreibt Seniorenzentren; in demjenigen, in dem das Betriebsratsmitglied beschäftigt ist, sind etwa 150 Beschäftigte tätig.
Das betroffene BR-Mitglied ist seit 1995 beschäftigt und hat einen GdB von 30, sie ist einem Schwerbehinderten gleichgestellt und auch Vertrauensfrau der Schwerbehinderten. Eine Kündigung war mithin keineswegs einfach durchzusetzen. Kündigungsgrund sollte folgender Vorgang sein:
In dem Betrieb war es zu Mobbinghandlungen gegen eine Kollegin gekommen, die auch darin bestanden, dass der Beschäftigten gegenüber handschriftlich auf einer Trauerkarte Todesdrohungen ausgesprochen wurden. Ein polizeiliches Ermittlungsverfahren endete ohne Ergebnis. Der Arbeitgeber versuchte hieraufhin, den Vorfall selbst aufzuklären. Hierzu wurde auch ein Sachverständiger für die Untersuchung der Handschrift beauftragt. Der Sachverständige erhielt vom Arbeitgeber Schriftproben verschiedener Beschäftigter, von denen der Arbeitgeber meinte, sie kämen als Täter in Frage. Hierzu gehörten auch handschriftliche Aufzeichnungen des betroffenen Betriebsratsmitglieds.
Der Gutachter kam zu dem Ergebnis, es bestehe eine „hohe Wahrscheinlichkeit“ dafür, dass die Schrift auf der Trauerkarte von dem Betriebsratsmitglied stamme. Gleichzeitig teilte der Gutachter auch mit, es gebe auf der Wahrscheinlichkeitsskala noch die höheren Wahrscheinlichkeiten „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit“ sowie „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“.
Der Arbeitgeber hörte die Betroffene hieraufhin zu dem Vorwurf an, sie sei die Urheberin der Mobbinghandlungen. Die Betroffene teilte mit, sie sei nicht die Täterin.
Dennoch leitete der Arbeitgeber auf der Basis der nur „hohen Wahrscheinlichkeit“ der Täterschaft das Verfahren zur beabsichtigten Kündigung ein. Das Integrationsamt stimmte der Kündigung zu. Der Betriebsrat verweigerte die Zustimmung, woraufhin der Arbeitgeber das Zustimmungsersetzungsverfahren einleitete.
Der Arbeitgeber argumentierte, es bestehe jedenfalls ein ausreichender Verdachtsgrad für den Ausspruch einer Verdachtskündigung. Er habe auch alles ihm zumutbare getan, um den Vorfall aufzuklären. Hierbei habe er auch ermittelt, dass das BR-Mitglied und die vom Mobbing betroffene Kollegin ein schlechtes Verhältnis zueinander gehabt hätten.
In dem Beschlussverfahren waren der Betriebsrat sowie das betroffene Betriebsratsmitglied jeweils Beteiligte. Sie argumentierten dahingehend, der Arbeitgeber habe zu langsam ermittelt und deshalb sei schon die Zweiwochenfrist des § 626 BGB nicht eingehalten. Auch könne über eine lediglich hohe Wahrscheinlichkeit der Tat eine Verdachtskündigung nicht gerechtfertigt werden.
Das Arbeitsgericht hatte den Antrag des Arbeitgebers abgewiesen. Mit der Beschwerde zum LArbG verfolgte der Arbeitgeber seinen Antrag weiter. Hierbei beantragte er auch die Einholung eines ergänzenden Gutachtens durch das Gericht.
Die betroffene Beschäftigte rügte vor dem Landesarbeitsgericht insbesondere den Umstand, dass der Arbeitgeber gegenüber dem Gutachter eine Vorauswahl der in Betracht kommenden Verdächtigen vorgenommen habe. Hierdurch war unklar, bei wie vielen Beschäftigten eine hohe Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung vorlag, weil der Gutachter nicht alle Handschriften der Beschäftigten abgleichen konnte. Weiterhin war hierdurch offen, ob es auch Beschäftigte gab, bei denen von einer höheren Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung als bei dem BR-Mitglied auszugehen war.
Das LArbG Hamm hat die Beschwerde zurückgewiesen und im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:
Bei der Prüfung der Berechtigung der außerordentlichen Kündigung eines BR-Mitglieds geht es um die Frage, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung bis zum Ablauf der – ohne den Sonderkündigungsschutz – fiktiven ordentlichen Kündigungsfrist zugemutet werden kann.
Der Arbeitgeber ist im Urteilsverfahren darlegungs- und beweispflichtig für diejenigen Umstände, die den wichtigen Grund i.S.d. § 626 BGB darstellen sollen. Insoweit sei der an sich im Beschlussverfahren anzuwendende Grundsatz der Amtsermittlung (§ 83 ArbGG) einzuschränken, da es anderenfalls zu einer Bevorzugung oder Benachteiligung des BR-Mitglieds kommen könne, die jedoch nach § 78 BetrVG gerade ausgeschlossen sei. In Beschlussverfahren nach § 103 BetrVG seien deshalb für die Darlegungs- und Beweislast dieselben Grundsätze anzuwenden wie im Individualverfahren um eine Kündigung.
Das Landesarbeitsgericht folgt der – umstrittenen – Auffassung des BAG, nach der eine Verdachtskündigung grundsätzlich denkbar ist. Es stellt jedoch heraus, bei einer Verdachtskündigung müsse es objektive und konkrete Tatsachen geben, die zu starken bzw. dringenden Verdachtsmomenten führen; diese Verdachtsmomente müssten geeignet sein, das Vertrauen zum Beschäftigten zu zerstören, und der Arbeitgeber müsse alle zumutbaren Anstrengungen zur Sachverhaltsaufklärung unternommen haben. Es müsse deshalb für die Rechtfertigung einer Verdachtskündigung zumindest eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass der Verdacht tatsächlich zutrifft. Dies sei nur dann der Fall, wenn es nahezu gewiss sei, dass der Verdacht zutrifft.
Vorliegend gelte Folgendes: Der Arbeitgeber stütze den Verdacht ausschließlich auf das Ergebnis des Sachverständigengutachtens. Die dort festgestellte „hohe Wahrscheinlichkeit“ begründe keinen derart intensiven Verdacht, dass eine Verdachtskündigung gerechtfertigt sei. Dies insbesondere deshalb, weil es dem Gutachten zufolge noch zwei höhere Verdachtsgrade gebe, die hier gerade nicht festgestellt wurden. Das Gutachten könne somit keinen Beweis für eine Täterschaft erbringen, und es sei nicht Aufgabe des Instruments der Verdachtskündigung, trotz eines fehlgeschlagenen Beweisversuchs eine Kündigung zu rechtfertigen. Dies gelte jedenfalls dann, wenn – wie hier durch ein Sachverständigengutachten – ein tatsächlicher Beweis denkbar wäre, ausreichende Beweismöglichkeiten also zur Verfügung stünden. In diesem Fall liege keine „Beweisnot“ vor, die gerade die Grundlage dafür bilde, das Instrument der Verdachtskündigung überhaupt anzuerkennen.
Weiterhin habe der Arbeitgeber vorliegend auch nicht alles Zumutbare unternommen, um den Verdacht aufzuklären. Er habe zwar die Betroffene zu dem Verdacht angehört, habe jedoch hierbei das Sachverständigengutachten gar nicht erwähnt. Weiterhin habe der Arbeitgeber keine Schriftproben von allen Beschäftigten zur Begutachtung eingereicht, was jedoch notwendig gewesen wäre. Das Landesarbeitsgericht führt hierzu völlig zutreffend aus, es sei keineswegs ausgeschlossen, dass es bei der Einbeziehung aller Handschriften in mehreren Fällen zu einer „hohen Wahrscheinlichkeit“ der Tatbegehung gekommen wäre, wodurch die Kündigungsabsicht natürlich in einem anderen Licht erschienen wäre. Es weist hierbei darauf hin, dass der Arbeitgeber hier offenbar noch nicht einmal vorgetragen hatte, nach welchen Kriterien er entschieden hatte, wessen Handschriften dem Gutachter zur Verfügung gestellt worden waren.
C. Kontext der Entscheidung
Der Entscheidung ist im Ergebnis zuzustimmen. Das Gutachten hatte schon deshalb keinerlei Aussagewert, weil dem Gutachter nur eine durch den Arbeitgeber bestimmte Auswahl von Handschriften vorgelegt worden war, wobei deren Auswahl gegenüber dem Gericht nicht begründet wurde. Insoweit führte das Gutachten zu einem „kann gut sein“, ohne irgendwelche Wahrscheinlichkeiten aufzuzeigen. Es war durch dieses Gutachten mangels Einbeziehung aller denkbaren Täter noch nicht einmal klar, ob hinsichtlich der Tatbegehung durch das Betriebsratsmitglied eine höhere Wahrscheinlichkeit als bei der Mehrheit der Beschäftigten bestand.
Der Versuch der Kündigung auf einer derart dünnen Grundlage mag damit zusammenhängen, dass es andere Konflikte des Arbeitgebers mit der Betroffenen gab und diese durch die Gleichstellung mit einer Schwerbehinderten sowie ihren Funktionen als Betriebsrätin und Vertrauensperson der schwerbehinderten Beschäftigten Sonderkündigungsschutz hatte.
Diskussionswürdig erscheint die Feststellung des Landesarbeitsgerichts, im Beschlussverfahren nach § 103 BetrVG würden dieselben Grundsätze hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast gelten wie im kündigungsschutzrechtlichen Individualverfahren. Das LArbG Hamm beruft sich hierzu auf eine Entscheidung des LArbG Düsseldorf (Beschl. v. 07.01.2004 – 12 TaBV 69/03), welches jedoch zurückhaltender formulierte und meinte, im Beschlussverfahren nach § 103 BetrVG sei der Grundsatz der Amtsermittlung „nur eingeschränkt anwendbar und führt nicht dazu, dass die Arbeitsgerichte ungenügend vorgetragenen Kündigungssachverhalt auch zu Gunsten des Arbeitgebers aufklären und bei dieser Ermittlung von sich aus Beweis erheben müssen“. Dies jedenfalls war vorliegend offenkundig der Fall.
D. Auswirkungen für die Praxis
Das Urteil enthält keine grundlegend neuen Erwägungen. Es verdeutlicht, dass Sachverständigengutachten sowohl hinsichtlich ihrer Methodik wie auch des Aussagegehalts ihrer Schlussfolgerungen kritisch zu hinterfragen sind, was nicht immer beachtet wird.