Nachfolgend ein Beitrag vom 22.2.2017 von Klocke, jurisPR-ArbR 8/2017 Anm. 4

Orientierungssatz zur Anmerkung

Es besteht kein Anspruch auf Urlaubsabgeltung vor Ende des Arbeitsverhältnisses bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit.

A. Problemstellung

Die Abgeltung von Urlaubsansprüchen ist nur in engen Grenzen möglich. Das deutsche und europäische Recht sehen einen Abgeltungsanspruch nur vor, wenn das Arbeitsverhältnis beendet ist (§ 7 Abs. 4 BUrlG; Art. 7 Abs. 2 RL 2003/88/EG). Daraus folgert die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur, dass die wirksame Beendigung des Rechtsverhältnisses Entstehungsvoraussetzung für den Abgeltungsanspruch ist (vgl. Gallner in: ErfKomm, 17. Aufl. 2017, § 7 BUrlG Rn. 72).
Das LArbG Mainz musste einen Fall entscheiden, in dem nicht zu erwarten stand, dass der Arbeitnehmer bis zum Eintritt in das Rentenalter seinen Urlaub nehmen konnte. Insofern stellt sich die Frage, ob der Urlaubsanspruch in dieser Konstellation bereits früher abzugelten ist.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der 1961 geborene Kläger hatte seit 2002 als Montagehelfer für 2.400 Euro im Monat bei der Beklagten gearbeitet. Sein Urlaubsanspruch betrug 30 Tage pro Jahr. Grundlage war eine Bezugnahme auf einen Tarifvertrag. Seit Juni 2013 war der Kläger durchgehend arbeitsunfähig erkrankt und wird nach seinem eigenen Vortrag bis zum Erreichen der Rentenaltersgrenze keine Arbeitsleistung mehr erbringen können. Klageweise verlangte er die Zahlung der Abgeltung des Urlaubs für die Jahre 2012 bis 2015 i.H.v. 6.992 Euro.
Das Arbeitsgericht hatte die Klage in der ersten Instanz als derzeit unbegründet abgewiesen. Im Rahmen der Berufung stützte sich der Kläger insbesondere darauf, dass das Kapitalisierungsverbot des BUrlG nicht entgegenstünde. Es sei ihm nämlich nicht mehr möglich, seine Arbeitskraft anzubieten. Außerdem werde er gegenüber den gesunden Arbeitnehmern benachteiligt, die den Urlaub nehmen können.
Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Voraussetzung für den Anspruch sei die rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Das sei aber vorliegend nicht der Fall. Auch führe das Erreichen des Renteneintrittsalters nicht automatisch zum Erlöschen des Arbeitsverhältnisses. Eine solche Vereinbarung hatte der Kläger aber nicht in den Prozess eingeführt.

C. Kontext der Entscheidung

I. Die Abgeltung von Urlaubsansprüchen ist seit jeher in der Diskussion. Nachdem die Rechtsprechung in den Achtzigerjahren ihre Leitlinien grundsätzlich zementiert hat (zur Diskussion: Kohte, BB 1984, 609 m.w.N.), wurde es in der Folge etwas leiser. Dies änderte sich jedoch mit der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Schultz-Hoff“ (EuGH, Urt. v. 20.01.2009 – C-350/06 und C-520/06). Aus dieser Entscheidung folgte, dass im Fall einer Krankheit die Urlaubsansprüche nicht am Jahresende unter § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG fallen durften. Dies führte in der Fernwirkung auch dazu, dass der Abgeltungsanspruch nicht mehr vom ursprünglichen Urlaubsanspruch abhängig gemacht werden durfte. Nunmehr ist der Abgeltungsanspruch ein reiner Geldanspruch, der keinen Entgeltcharakter hat und mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig wird (vgl. BAG, Urt. v. 09.08.2011 – 9 AZR 365/10 Rn. 18 – BAGE 139, 1; Schubert, RdA 2014, 9; Düwell in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2009, § 80 Rn. 67).
II. Nach der neuen Rechtsprechung des BAG tritt der aufrechterhaltene Urlaubsanspruch zu dem im Folgejahr entstandenen Urlaubsanspruch hinzu. Gleichzeitig ist das BAG der (zweifelhaften) Ansicht, dass der Anspruch damit erneut dem Fristenregime des § 7 Abs. 3 BUrlG unterfällt (vgl. BAG, Urt. v. 09.08.2011 – 9 AZR 425/10 – AP Nr. 52 zu § 7 BUrlG). Besteht die Arbeitsunfähigkeit auch am 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres fort, hat dies nunmehr die Folge, dass der zunächst aufrechterhaltene Urlaubsanspruch erlischt (vgl. BAG, Urt. v. 07.08.2012 – 9 AZR 353/10 – NZA 2012, 1216). Insofern besteht der Anspruch nicht bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses fort und kann daher nicht wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses genommen werden.
Da der Arbeitgeber wegen der Krankheit daran gehindert war, den Arbeitnehmer zu beurlauben, kommt auch ein Anspruch aus den §§ 280, 283 BGB nicht in Betracht, insbesondere, weil die Voraussetzungen des Verzugs für § 287 Satz 2 BGB nicht gegeben sind (sog. bürgerlich-rechtlicher Abgeltungsanspruch, vgl. Worm/Thelen, NJW 2016, 1764, 1765 f.); zur Initiativpflicht: Gooren, NZA 2016, 1374 m.w.N.).
III. Eine andere Bewertung ist jedoch für die Zeit unmittelbar vor Erreichen des Renteneintrittsalters geboten. Auf der Grundlage der neuen Rechtsprechung geht es um die Abgeltung der letzten beiden Jahre vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses.
Der Fall weist die Besonderheit auf, dass das Landesarbeitsgericht sich hinsichtlich des Alters und des Renteneintrittsalters unsicher war. Ist zwischen den Parteien unstrittig oder hat der Kläger den Beweis erbracht, dass er bis zum Renteneintrittsalter arbeitsunfähig sein wird, stellt sich jedoch die gleiche Problematik.
Im Schuldrecht ist allgemein anerkannt, dass auch ein vorübergehendes Leistungshindernis der dauerhaften Unmöglichkeit gleichkommen kann. Das gilt insbesondere bei Unsicherheiten über die Dauer. Dazu darf das Festhalten am Vertrag einem Vertragspartner nach Treu und Glauben unter billiger Abwägung der Interessen nicht zugemutet werden (BGH, Urt. v. 08.05.2014 – VII ZR 203/11 – NJW 2014, 3365, 3367; vgl. auch: Ernst in: MünchKomm BGB, 7. Aufl. 2016, § 275 Rn. 135). Im Einzelfall kommt eine Korrektur über § 242 BGB in Betracht (vgl. RG, Urt. v. 27.09.1938 – I 36/38 – RGZ 158, 321, 331 f.). Im vorliegenden Fall wäre das Festhalten an der Beendigungsvoraussetzung ein reiner Formalismus.
Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Abgeltung für zwei Jahre, ohne dass das Arbeitsverhältnis von den Parteien überhaupt bedient wurde, eine erhebliche wirtschaftliche Belastung für den Arbeitgeber darstellt. Allerdings geht es im vorliegenden Fall weniger um das „Ob“ als vielmehr um das „Wann“.
Die Sinnhaftigkeit dieses Ergebnisses ergibt sich aus einem Vergleich zum eigentlichen Urlaubsanspruch (zur Zulässigkeit dieses Gedankens trotz Aufgabe der Surrogationstheorie: Schubert, RdA 2014, 9, 12 f.). Denn dieser steht dem Arbeitnehmer bereits zu Beginn des Jahres zu. Die Nichtabgeltung muss sich daher rechtfertigen. Steht jedoch sicher zu erwarten, dass der Arbeitnehmer nicht mehr in den Betrieb zurückkehrt, gibt es keinen Grund, ihm die Abgeltung vorzuenthalten. Umgekehrt hat der Arbeitgeber auch kein Interesse, das Geld zurückzuhalten.
Das BAG geht bislang zwar davon aus, dass keine Anwartschaft auf die Abgeltung besteht (BAG, EuGH-Vorlage v. 18.10.2016 – 9 AZR 196/16). Davon zu trennen ist jedoch der Fall, in dem das Entstehen des Anspruchs aufgrund einer Prognose sicher anzunehmen ist und anderen Arbeitnehmern ein Urlaubsanspruch zuwächst.
Der Wortlaut des § 7 Abs. 4 BUrlG steht einer Übernahme des Rechtsgedankens nicht entgegen. Vielmehr stützt er dieses Ergebnis. Die Formulierung „nicht mehr“ stellt keine unüberwindbare Hürde dar. Sie behält auch aus einer ex-ante-Perspektive am 01.01. des Jahres ihren Sinn. Diese Offenheit des Wortlauts hat unmittelbare Relevanz für die Fälligkeit i.S.v. § 271 BGB. Sobald feststeht, dass der Urlaub nicht mehr wegen der Beendigung genommen werden kann, entsteht der Anspruch auf Abgeltung.
Das Verbot von Anreizen für das Abkaufen von Urlaub verfängt in dieser Konstellation nicht, weil der Arbeitnehmer nicht auf seinen Urlaub verzichtet. Er kann ihn nicht nehmen.
Auch der EuGH betont, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und ein bestehender Urlaubsanspruch die einzigen Voraussetzungen der Abgeltung nach Art. 7 Abs. 2 RL 2003/88/EG sind (EuGH, Urt. v. 12.06.2014 – C-118/13). Der Regelungszusammenhang von Abs. 1 und Abs. 2 besteht darin, dass der Urlaubsanspruch soweit wie möglich aufrechterhalten bleiben soll und der Abgeltungsanspruch diesen nur für den Fall ablösen soll, dass er wegen Beendigung unmöglich wird. Allerdings darf Art. 7 Abs. 2 RL 2003/88/EG nicht dergestalt restriktiv ausgelegt werden, dass die Norm Rechten des Arbeitnehmers entgegensteht (EuGH, Urt. v. 12.06.2014 – C-118/13). Insofern wäre die formale Zurückstellung des Anspruchs eine Beeinträchtigung der praktischen Wirksamkeit. Während gesunde Arbeitnehmer in den Genuss des Urlaubsanspruchs kommen, müsste der erkrankte Arbeitnehmer auf eine Abgeltung warten, obgleich alles darauf hindeutet, dass er dieses Recht erhalten wird.

D. Auswirkungen für die Praxis

Das BAG betont, dass der Urlaubsanspruch grundsätzlich mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig wird (BAG, Urt. v. 08.04.2014 – 9 AZR 550/12). Der vorliegende Fall illustriert eine Ausnahme von diesem Dogma.
Die Abgeltung von Urlaubsansprüchen von Langzeiterkrankten ist für alle Parteien des Arbeitsverhältnisses ein großes Problem. Langzeiterkrankungen bringen Arbeitnehmer oftmals an ihre Grenzen, und die Urlaubsabgeltung belastet den Arbeitgeber, der im Kalenderjahr keine Arbeitsleistung erhalten hat. Dabei ist die Abgeltung regelmäßig nur ein Symptom dafür, dass betriebliche Lösungen und insbesondere ein betriebliches Eingliederungsmanagement nach § 84 Abs. 2 SGB IX nicht oder nicht ausreichend angestrebt wurden oder weitergehende Konsequenzen nicht gezogen wurden.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Für die Praxis wichtig sind auch die Ausführungen zur fehlenden Darlegung der tarifvertraglichen Befristung. Grundsätzlich gilt: curia novit iura, sofern der Tarifvertrag für das Arbeitsverhältnis normative Bindung entfaltet (Koch in: ErfKomm, 17. Aufl. 2017, § 46 ArbGG Rn. 7). Das BAG wendet § 293 ZPO an (BAG, Urt. v. 21.09.2010 – 9 AZR 515/09 – AP Nr. 49 zu § 1 TVG Altersteilzeit). Daher hat ein Gericht den Inhalt der tariflichen Normen als Bestandteil des auf den Sachverhalt anzuwendenden Rechts zu ermitteln und von selbst zu überprüfen, ob der Tarifvertrag die erhobenen Ansprüche stützt (BAG, Urt. v. 15.04.2008 – 9 AZR 159/07 – NZA-RR 2008, 586, 590).
Diese Grundsätze gelten allerdings nicht, wenn wie hier der Tarifvertrag nur qua Bezugnahme und deshalb gerade nicht normativ gilt (BAG, Urt. v. 08.07.2015 – 4 AZR 51/14 – NJW 2015, 3740).