Nachfolgend ein lesenswerter Beitrag vom 16.09.2015 von Gravenhorst, jurisPR-ArbR 37/2015 Anm. 4

Leitsatz

Ein Auswechseln der Kündigungsgründe erst im Prozess in dem Sinne, dass die Kündigung einen völlig anderen Charakter erhält, ist nicht zulässig. In einem derartigen Fall ist nur der Ausspruch einer neuen Kündigung möglich, denn es handelt sich insoweit nicht um den Fall des nach der Rechtsprechung des BAG zulässigen Nachschiebens von zuvor nicht bekannten Kündigungsgründen, sondern um die Auswechselung bekannter Kündigungsgründe.

A. Problemstellung

Kann der Arbeitgeber bei einer zunächst auf verhaltensbedingte Gründe gestützten ordentlichen Kündigung im Prozess geltend machen, die Kündigung sei jedenfalls auch als betriebsbedingte Kündigung gerechtfertigt?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

B. hatte in seinem betriebsratslosen Unternehmen dem Arbeitnehmer K. eine betriebsbedingte Kündigung avisiert. Hierüber kam es zu persönlichen Spannungen und Vorfällen, die B. zu einer fristlosen Kündigung veranlassten. Dem Besprechungsurteil lässt sich leider nicht mit Gewissheit entnehmen, ob B. neben der fristlosen vorsorglich zugleich auch ausdrücklich eine ordentliche Kündigung ausgesprochen hat oder ob das erstinstanzliche Arbeitsgericht durch Auslegung oder Umdeutung zur Annahme einer auch ordentlichen Kündigung gelangt ist. K. jedenfalls hat in seiner Klage geltend gemacht, die Kündigung könne das Arbeitsverhältnis weder fristlos noch fristgerecht beenden. B. hat im Laufe des Verfahrens argumentiert, die Kündigung sei als ordentliche Kündigung jedenfalls aus betriebsbedingten Gründen gerechtfertigt. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die außerordentliche Kündigung verworfen, Einzelheiten hierzu sind nicht von allgemeinem Interesse. Das Berufungsgericht hat weiter entschieden, dass die von B. geltend gemachten verhaltensbedingte Gründe die Kündigung als ordentliche nicht zu rechtfertigen vermöchten. Das Besprechungsurteil lehnt es dann ab, die von B. bereits in I. Instanz „nachgeschobenen“ betriebsbedingten Gründe auch nur zu prüfen: Durch die erst im Verfahren geltend gemachten betriebsbedingten Gründe erhalte die Kündigung einen „völlig anderen Charakter“; in einem solchen Fall sei B. auf den Ausspruch einer neuen Kündigung zu verweisen. Nach dem Besprechungsurteil besteht das Arbeitsverhältnis daher fort, allerdings unter Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung.

C. Kontext der Entscheidung

I. Entgegen der Darstellung des Besprechungsurteils hat B. die Begründung für die ordentliche Kündigung keineswegs „ausgetauscht“, vielmehr hat er die Kündigung insoweit nur vorsorglich ergänzend – auch – auf betriebsbedingte Gründe gestützt. Das Gesetz kennt den „völlig anderen Charakter“ einer Kündigung nicht. Es differenziert lediglich zwischen ordentlichen und außerordentlichen (fristlosen) Kündigungen (denen die Rechtsprechung noch die außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist hinzugefügt hat, insbesondere für Fälle ordentlich nicht mehr kündbarer Arbeitsverhältnisse).

II. Nach ständiger Rechtsprechung sowohl der Arbeitsgerichte als auch der ordentlichen Gerichte muss das Unternehmen weder vor noch bei Ausspruch einer Kündigung dem davon betroffenen Arbeitnehmer bzw. Organmitglied die Gründe für die Kündigung mitteilen (eine Ausnahme gilt nur bei Verdachtskündigungen sowie bei entsprechenden Vereinbarungen im Anstellungsvertrag oder per Tarifvertrag/Betriebsvereinbarung).Bei Existenz eines Betriebsrats/Personalrats/Sprecherausschusses muss der Arbeitgeber nur diesen Gremien den Kündigungsgrund im Anhörungsverfahren mitteilen, nach geltendem Recht unverständlicherweise aber nicht auch dem betroffenen Arbeitnehmer. Es genügt vielmehr, wenn der Arbeitgeber im Kündigungsschutzprozess vorträgt und nachweist, dass bei Ausspruch der Kündigung ein Kündigungsgrund objektiv bereits vorhanden war und das zuständige Gremium ordnungsgemäß angehört worden ist bzw. zugestimmt hat.

Dass der Arbeitgeber jedweden Kündigungsgrund nachschieben kann, sofern er nur bei Ausspruch der Kündigung objektiv bereits vorhanden war, wird auch durch den Regelungsgehalt von § 6 KSchG bestätigt. Danach kann nämlich der Arbeitgeber jedenfalls bis zum Ende der letzten mündlichen Verhandlung I. Instanz Kündigungsgründe nachschieben. Das Gesetz differenziert nicht danach, ob die Kündigung durch die Art des nachgeschobenen Grundes einen „völlig anderen Charakter“ bekommt oder nicht. Es können daher Gründe jeder Art nachgeschoben werden, auch solche, die der Kündigung einen „völlig anderen Charakter“ geben. Im Besprechungsfall kommt die Besonderheit hinzu, dass B. dem K. zunächst eine betriebsbedingte Kündigung sogar ausdrücklich angekündigt hatte, K. also vom betriebsbedingten „Charakter“ der Kündigung in keiner Weise überrascht worden sein kann. Das Besprechungsurteil geht mit keinem Wort darauf ein, dass B. im Kündigungsschutzprozess auf Gründe zurückgreift, die er dem K. bereits vor der Kündigung angekündigt hatte.

III. De lege ferenda wäre es durchaus sinnvoll, den betroffenen Arbeitnehmer vor jeder Kündigung unter Mitteilung der Gründe zu hören und den nachfolgenden Kündigungsschutzprozess auf die Prüfung der vorher mitgeteilten Gründe zu beschränken. Für eine solche Regelung spricht vor allem, dass es in einer Vielzahl von Fällen gar nicht erst zu einer Kündigung käme, weil Missverständnisse ausgeräumt und gegebenenfalls eine einvernehmliche Regelung gefunden werden könnte. Ist hingegen die Kündigung erst einmal ausgesprochen – nicht zuletzt auch unter dem Druck der Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB – und ist dann unter dem zusätzlichen Druck der dreiwöchigen Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG sogar ein Prozess erst einmal anhängig, so ist – wie jeder Kundige bestens weiß – die Rückkehr des Gekündigten an seinen früheren Arbeitsplatz nur in den allerwenigsten Fällen noch eine realistische Alternative.Die hier angedachte Neuregelung würde eine Vielzahl von Prozessen gar nicht erst entstehen lassen und so nicht zuletzt auch eine kostensenkende Entbürokratisierung bewirken.

IV. Lässt man einmal den Blick über den Tellerrand des Arbeitsrechts schweifen, so stößt man für eine vergleichbare Situation im Mietrecht auf die Vorschrift des § 573 Abs. 3 Satz 1 BGB. Danach „sind die Gründe für ein berechtigtes Interesse des Vermieters“ an der Kündigung „in dem Kündigungsschreiben anzugeben“. Andere Gründe sind im Räumungsprozess nicht zu berücksichtigen, es sei denn, dass sie nachträglich entstanden sind (§ 573 Abs. 3 Satz 2 BGB). Auch für das Arbeitsrecht sollte daher eine Regelung vorstellbar sein, dass jedenfalls verhaltens- und personenbedingte Kündigungsgründe dem betroffenen Arbeitnehmer vor Ausspruch der Kündigung mitzuteilen und mit ihm zu erörtern sind, wobei in einem sich etwa anschließenden Kündigungsschutzprozess die Prüfung auf die vor der Kündigung mitgeteilten Gründe beschränkt sein sollte. Für nach Zugang der Kündigung neu entstandene Kündigungsgründe sollte es beim Erfordernis einer erneuten Kündigung bleiben (anders § 573 Abs. 3 Satz 2 BGB für das Mietrecht).

V. Bei den Arbeitsgerichten lässt sich oft eine Tendenz feststellen, dem betroffenen einzelnen Arbeitnehmer nach Möglichkeit zu „helfen“, ein durchaus verständlicher und menschlich sympathischer Zug. So war es augenscheinlich auch im vorliegenden Fall, in dem das Berufungsgericht die Klage in vollem Umfang hat durchgreifen lassen. Immerhin hat das Landesarbeitsgericht für den Arbeitgeber die Revision zugelassen. Sollte B. davon Gebrauch machen und das BAG wider alles Erwarten etwa dazu neigen, das Berufungsurteil zu bestätigen, wird zu berücksichtigen sein, dass dann wohl der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes wird angerufen werden müssen; denn der BGH vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass das Unternehmen nach Ausspruch einer Kündigung beliebige Gründe nachschieben kann, sofern sie bei Ausspruch der Kündigung nur objektiv vorhanden waren (BGH, Urt. v. 01.12.2003 – II ZR 161/02 Rn. 12-14 m.w.N.; vgl. auch OLG Düsseldorf, Urt. v. 24.02.2012 – 16 U 177/10: In diesem vom OLG Düsseldorf entschiedenen Fall hatte eine GmbH ihrem Geschäftsführer fristlos gekündigt, und zwar zunächst gestützt auf Beleidigungen und später zusätzlich gestützt auf Vermögensdelikte, die bei Ausspruch der Kündigung schon begangen waren).

VI. Eine zunächst auf verhaltensbedingte Gründe gestützte Kündigung erhält keinen „völlig anderen Charakter“, wenn das Unternehmen sich im Prozess ergänzend auch auf betriebsbedingte Gründe stützt. Es bleibt dieselbe Kündigung, nicht etwa liegen zwei unterschiedliche Kündigungen vor. Vielmehr wird die eine, ausgesprochene Kündigung nur mehrfach begründet. Ein derartiges Nachschieben von Kündigungsgründen ist nach bisher einhelliger Auffassung zulässig. Hierfür spricht nicht zuletzt auch die prozessökonomische Überlegung, den Arbeitgeber nicht dazu zu zwingen, eine erneute Kündigung auszusprechen und damit einen neuen Prozess auszulösen. Das Besprechungsurteil steht mit der geltenden Dogmatik des Kündigungsrechts nicht in Einklang.

VII. Das LArbG Düsseldorf hat dem K. möglicherweise einen etwas zu großen Gefallen getan: Wahrscheinlich wird B. Revision einlegen und auf der Basis der bisherigen Rechtsprechung wohl auch Erfolg haben. Dann hat der Kläger die Kosten des gesamten Rechtstreits zu tragen. Zielführender wäre es vielleicht gewesen, das Nachschieben der betriebsbedingten Kündigungsgründe zuzulassen, sie zu prüfen und gegebenenfalls die Klage abzuweisen, dabei aber dem Kläger die Möglichkeit zu eröffnen, Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung einzulegen. Alsdann könnte der Kläger mit seinem Anwalt darüber entscheiden, ob er beim BAG „sein Glück versuchen“ möchte oder nicht.

D. Auswirkungen für die Praxis

Das Besprechungsurteil ist ein „Versuchsballon“, der in der Rechtsprechung bisher kein Vorbild hat. Die Erfolgsaussichten dieses „Versuchsballons“ auf einen erfolgreichen Flug dürften als eher gering einzuschätzen sein.