Nachfolgend ein Beitrag vom 27.07.2016 von Gerstlauer, jurisPR-ArbR 30/2016 Anm. 1

Leitsätze

1. Der gemäß § 24 Abs. 2 MiLoG übergangsweise abweichend von § 1 Abs. 2 Satz 1 MiloG geregelte Mindestlohn für Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller ist mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.
2. Der Begriff zustellen i.S.d. § 24 Abs. 2 Satz 3 MiLoG umfasst auch ein in unregelmäßigen Abständen anfallendes Einlegen einzelner Werbebeilagen in das zuzustellende Trägerprodukt.
3. Soweit ein Anspruch auf gesetzlichen Mindestlohn besteht, ist ein vertraglich vereinbarter Nachtzuschlag auf der Basis des gesetzlichen Mindestlohnes zu berechnen (Anschluss an LArbG Berlin-Brandenburg v. 12.01.2016 – 19 Sa 1851/15).

A. Problemstellung

Haben Arbeitnehmer, die zusätzlich Werbeprospekte von Hand einsortieren, Anspruch auf den vollen Mindestlohn?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Seit Anfang 2015 ist der gesetzliche Mindestlohn gem. § 1 Abs. 1 MiLoG zu zahlen. Eine Ausnahme hierzu bildet § 24 Abs. 2 MiLoG für die Zeitungszusteller. Diese erhalten für eine Übergangszeit nur einen verringerten Mindestlohn.
Der Kläger war als Zeitungszusteller bei der beklagten Pressevertriebsgesellschaft auf Grundlage von zwei Arbeitsverträgen beschäftigt. Das erste Arbeitsverhältnis begann am 28.03.2014 und umfasste die werktägliche Zustellung von Tageszeitungen mit einer Stücklohnvergütung. Der zweite Arbeitsvertrag wurde Ende 2014 geschlossen und hatte die Zustellung eines redaktionellen Anzeigenblattes einmal die Woche zum Gegenstand. Teilweise mussten Werbeprospekte von Hand eingelegt werden.
Seit dem 01.01.2015 stockte die Beklagte den Stücklohn des Klägers auf einen Stundenlohn von umgerechnet 6,38 Euro brutto als Mindestlohnausgleich auf. Pro zusätzlich einzulegendem Katalog erhielt der Kläger einen Stücklohn von Euro 0,06 Euro.
Die zu verteilenden Tageszeitungen und Anzeigenblätter enthielten regelmäßig Werbeprospekte, zusätzliche Beilagen wurden nur selten geliefert. Die zusätzlich gelieferten Beilagen mussten dann vor oder während der Zustellung in die Anzeigenblätter eingefügt werden. In dem streitbefangenen Zeitraum von Januar bis Mai 2015 hatte der Kläger nur einmal einen Katalog manuell einzulegen.
Der Kläger beantragte für den Zeitraum vom 01.01.2015 bis 31.05.2015 den vollen Mindestlohn. Er vertrat die Auffassung, dass aufgrund der beigefügten und insbesondere aufgrund der manuell einzulegenden Werbeprospekte, die er mit den Tageszeitungen und Anzeigenblättern verteilte, die Ausnahme des § 24 Abs. 2 MiLoG nicht greife.
Das ArbG Nienburg gab der Klage vollumfänglich statt und stellte hierfür insbesondere auf das manuelle Einlegen der Werbeprospekte ab, wodurch keine ausschließliche Zustellung von Tageszeitungen und Anzeigenblättern mit redaktionellem Inhalt vorliege, da diese Tätigkeit abgetrennt und auch von dritten Personen ausgeübt werden könne. Zudem seien beide Arbeitsverträge als einheitliches Arbeitsverhältnis zu behandeln, weshalb der Kläger Anspruch auf den vollen Mindestlohn für sämtliche Arbeitszeiten einschließlich des Nachtzuschlages hierauf habe.
Das LArbG Hannover hat das Urteil insoweit aufgehoben, als es die Beklagte zur Zahlung des Mindestlohnes verurteilt hat.
Das LArbG Hannover ging davon aus, dass § 24 Abs. 2 MiLoG einschlägig ist. Ein Eingriff in Art. 3 Abs. 1 GG sei unter dem Aspekt des Schutzes der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) gerechtfertigt und mache die besondere Übergangsregelung des § 24 Abs. 2 MiLoG erforderlich – insbesondere aufgrund des niedrigen Lohnniveaus im Bereich der Zeitungszusteller und der daraus resultierenden erheblichen Mehrkosten durch den Mindestlohn. Die Trägerzustellung als notwendige Voraussetzung für das Funktionieren der grundgesetzlich geschützten freien Presse sei andernfalls durch die Einführung des Mindestlohnes gefährdet.
Die Tatbestandsvoraussetzung „ausschließlich“ entfiele nicht durch die regelmäßigen Werbeeinlagen in den Tageszeitungen und Anzeigenblättern in Bezug auf den Zustellgegenstand (periodische Tageszeitungen und redaktionelle Anzeigenblätter), solange es sich um Werbeleistungen des Trägerprodukts handele. Andernfalls liefe § 24 Abs. 2 MiLoG faktisch leer. Mit dem Merkmal „ausschließlich“ in § 24 Abs. 2 Satz 3 MiLoG solle lediglich die Zustellung von Postsendungen und reinen Werbeprospekten ausgeschlossen werden, die nicht der Pressefreiheit unterliegen.
Das Wort „zustellen“ sei als „überbringen“ zu verstehen, in der Gesetzesbegründung sei von „Trägerzustellung“ die Rede, was als Synonym dem Begriff „austragen“ nahelege. Beides beinhalte neben dem Akt des Übergebens auch Elemente des Transports sowie damit üblicherweise im Zusammenhang stehende Tätigkeiten. Somit sei auch das Einlegen von Werbeprospekten per Hand von dem Begriff „zustellen“ umfasst, wenn das Einlegen im Verhältnis zum Transport und der Übergabe nur eine zeitlich untergeordnete Bedeutung einnehme und die Tätigkeit nicht präge.
Einer Umgehungsgefahr könne mit einer differenzierten Betrachtung der jeweiligen Einzelumstände hinreichend Rechnung getragen werden. Indizien für eine Umgehung bestünden insbesondere, wenn den Zustellern im Zusammenhang mit der Einführung des MiLoG neue Aufgaben übertragen würden. Gegen eine Umgehung spreche es, wenn die arbeitsvertraglichen Regelungen bereits vor Bekanntwerden der Übergangsregelung in § 24 Abs. 2 MiLoG bestanden hätten.

C. Kontext der Entscheidung

Im Bereich des zum 01.01.2015 eingeführten Mindestlohngesetzes existieren noch kaum Entscheidungen. Es handelt sich um das erste gerichtliche Verfahren zum § 24 Abs. 2 MiLoG und die erste zu erwartende Entscheidung des BAG.

D. Auswirkungen für die Praxis

Es wird nun Aufgabe des BAG sein, sich im Rahmen der Revision (Az. 5 AZR 383/16) damit zu befassen, wie weit die Ausnahme des § 24 Abs. 2 MiLoG reicht. Auch eine weitere Klarstellung der Tatbestandsmerkmale „ausschließlich“ und „zustellen“ wird notwendig sein. Derzeit besteht keine Rechtssicherheit, ob das Verteilen beizufügender Werbeprospekte von § 24 Abs. 2 MiLoG umfasst wird. Insbesondere ist unklar, wo die Grenze zu ziehen ist und ab wie vielen zusätzlich einzulegenden Prospekten tatsächlich nicht mehr von einer ausschließlichen Zustellung gesprochen werden kann. Ab 2018 läuft die Übergangsregelung allerdings ohnehin aus, so dass dann auch den Zeitungszustellern der gesetzliche Mindestlohn zu zahlen sein wird.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Das LArbG Hannover entschied zudem, dass eine Anrechnung gezahlter Nachtarbeitszuschläge auf den Mindestlohn nicht in Betracht kommt, sondern der Nachtzuschlag auf Basis des gesetzlichen Mindestlohns zu berechnen ist.