Nachfolgend ein Beitrag vom 6.4.2016 von Kohte, jurisPR-ArbR 14/2016 Anm. 5
Orientierungssatz zur Anmerkung
Wenn in einem Formulararbeitsvertrag bei geringfügiger Beschäftigung rechtswidrig jeglicher bezahlter Urlaub ausgeschlossen wird, dann ist der Urlaubs- oder Urlaubsabgeltungsanspruch auch nach dem Ende des Urlaubsjahrs zu erfüllen, wenn eine vorherige Mahnung des Arbeitnehmers unterblieben ist.
A. Problemstellung
In den letzten Jahren haben sich die Hinweise verdichtet, dass vor allem bei prekären Beschäftigungsverhältnissen der Jahresurlaub nicht immer ordnungsgemäß gewährt wird und dass es Formularverträge gibt, in denen ein Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub generell ausgeschlossen wird (dazu nur: LArbG Hamm, Urt. v. 18.03.2009 – 6 Sa 1284/08 – Streit 2009, 107). Während die Grundsatzfrage einfach zu beantworten ist, dass der gesetzliche Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vertraglich unabdingbar ist, stellt die Rechtsdurchsetzung praktische Herausforderungen, weil das BAG bisher in ständiger Rechtsprechung verlangt, dass Arbeitnehmer zunächst den Anspruch auf Jahresurlaub verlangen müssen und dass sie ohne ein solches Verlangen am Ende des Urlaubsjahrs den Anspruch verlieren.
Der sich daraus ergebenden Rechtsschutzlücke ist das LArbG Mainz mit einer doppelten Begründung entgegengetreten.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin war bei der Beklagten von 2008 bis 2014 als geringfügig Beschäftigte tätig. Sie arbeitete jeweils von Montag bis Freitag und erhielt zuletzt eine vertragsgemäße Arbeitsvergütung von 450 Euro netto monatlich. In der gesamten Dauer des Arbeitsverhältnisses hat sie keinen bezahlten Urlaub erhalten. Der Beklagte berief sich auf den Formulararbeitsvertrag, in dem geregelt war:
„Die Vertragsparteien sind sich darüber einig, dass die Vergütung entsprechend den Vorschriften des § 40a EStG erfolgen soll und somit ein Anspruch auf bezahlten Urlaub nicht besteht.“
Mit ihrer 2014 nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses beim Arbeitsgericht eingereichten Klage hat die Klägerin die Beklagte auf Abgeltung von insgesamt 101 Urlaubstagen für die Jahre 2010 bis 2014 in Anspruch genommen. Die Beklagte zahlte nach Klageerhebung den auf das Urlaubsjahr 2014 entfallenen Teilbetrag. In beiden Instanzen hatte die Klage für die Jahre 2011 bis 2013 Erfolg, während eine Zahlung für 2010 wegen Verjährung abgelehnt wurde.
In einer ersten Begründung stützte sich das Berufungsgericht auf den Ausgangspunkt der BAG-Rechtsprechung (dazu nur BAG, Urt. v. 23.06.1992 – 9 AZR 57/91 – AP Nr. 22 zu § 1 BUrlG). Danach steht dem Arbeitnehmer nach dem Ende des Urlaubsjahrs ein Schadensersatzanspruch nach Verzugsgrundsätzen zu, wenn der Arbeitgeber den rechtzeitig verlangten Urlaub nicht gewährt hat und der ursprüngliche Urlaubsanspruch aufgrund der vom BAG angenommenen Befristung dieses Anspruchs verfällt (§§ 275, 280, 283, 286, 249 BGB). Dieser Anspruch ist auf Gewährung von Ersatzurlaub und nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf Geldzahlung gerichtet.
Im vorliegenden Fall hatte die Klägerin allerdings den Urlaub nicht rechtzeitig verlangt. Das Gericht sah die Beklagte gleichwohl im Verzug, da sie bereits bei Vertragsschluss mit dem von ihr formulierten Arbeitsvertrag jegliche Gewährung von Urlaub von vornherein ernsthaft und endgültig verweigert hatte, so dass nach § 286 Abs. 2 Nr. 3 BGB eine Mahnung nicht erforderlich war (zu dieser Rechtsfigur auch BAG, Urt. v. 15.10.2013 – 9 AZR 374/12 – NZA-RR 2014, 234 Rn. 22).
Als weitere Begründung für den Schadensersatzanspruch der Klägerin stützte sich das Gericht auf einen Anspruch aus Verschulden bei Vertragsschluss nach § 280 Abs. 1 BGB i.V.m. den §§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB, da die Beklagte die geschäftsunerfahrene Klägerin über die Rechtslage falsch informiert habe, denn § 40a EStG sei keine Legitimation für die Nichtgewährung von Urlaub. Diese Falschinformation sei eine Pflichtverletzung; die Beklagte habe nicht darlegen können, dass sie diese Pflichtverletzung nicht zu vertreten habe (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB), so dass zumindest von Fahrlässigkeit auszugehen sei.
Der Anspruch für das Kalenderjahr 2010 war nach den §§ 195, 199 Abs. 1 BGB verjährt, worauf sich die Beklagte berufen hatte. Nicht erörtert wurde, ob es sich bei dieser Einrede um eine unzulässige Rechtsausübung gehandelt hat, denn die Klägerin hatte nicht dargelegt, dass die Beklagte sie vorsätzlich getäuscht hat.
C. Kontext der Entscheidung
Der vorliegende eindeutige Sachverhalt verlangte aus der Sicht des Berufungsgerichts keine kritische Auseinandersetzung mit der bisherigen Rechtsprechung des BAG, weil hier angesichts des markanten Formulararbeitsvertrages die Rechtsfigur der ernsthaften und endgültigen Erfüllungsverweigerung erfolgreich eingesetzt werden konnte. In der Mehrzahl der Fälle aus dem Bereich der geringfügigen Beschäftigung fehlt jedoch eine so eindeutige Formulierung. Der bezahlte Urlaub wird faktisch nicht gewährt und nicht verlangt, sondern durch unbezahlte freie Tage ersetzt. Gleichwohl ist auch diese Praxis eindeutig rechtswidrig und mit dem Bundesurlaubsgesetz nicht vereinbar.
Eine systematische Lösung für diese Fallgestaltungen wird erreicht, wenn man sich der Entscheidung des LArbG Berlin-Brandenburg vom 12.06.2014 (21 Sa 221/14 – NZA-RR 2014, 631) anschließt. Das Gericht hatte in Abkehr von der bisherigen BAG-Rechtsprechung entschieden, dass der Arbeitgeber von sich aus verpflichtet sei, den Urlaub zu gewähren und an die Arbeitnehmer heranzutreten, um den Termin der Urlaubsgewährung klären zu können. Unterlasse er dies, sei dies eine Pflichtverletzung, die zum Schadensersatz gemäß § 280 Abs. 1 BGB führe. Auf die Anforderungen des § 286 BGB komme es nicht an. Das LArbG Berlin-Brandenburg hatte sich dazu auf die Systematik des Arbeitsschutzrechts bezogen; Arbeitgeber sind danach verpflichtet, von sich aus die ihnen obliegenden Arbeitsschutzpflichten zu erfüllen. Da der Anspruch auf Urlaub zum Arbeitsschutz gehöre, wie sich vor allem unionsrechtlich aus der RL 2003/88/EG und der ständigen Rechtsprechung des EuGH ergebe, sei der Schadensersatzanspruch, der auf Naturalrestitution bzw. Geldersatz gerichtet sei, auch dann begründet, wenn Arbeitnehmer den Urlaub nicht rechtzeitig verlangt hätten (dazu auch LArbG Hamm, EuGH-Vorlage v. 14.02.2013 – 16 Sa 1511/12 Rn. 85).
Mehrere landesarbeitsgerichtliche Entscheidungen sind der Entscheidung des LArbG Berlin-Brandenburg gefolgt (LArbG München, Urt. v. 06.05.2015 – 8 Sa 982/14 – ZTR 2016, 35, Revision anhängig 9 AZR 541/15; LArbG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 07.05.2015 – 10 Sa 86/15 und 10 Sa 108/15). Der für das Befristungsrecht zuständige Siebte Senat des BAG hat in einer Entscheidung vom 04.11.2015 (7 AZR 851/13) im Zusammenhang mit einer Bedingungskontrollklage in nicht tragenden Gründen auf diese neue Rechtsprechung hingewiesen (Rn. 63 f.). In der Literatur hat die neue Linie in der Rechtsprechung der Landesarbeitsgerichte mehrheitlich Zustimmung gefunden (dazu: Hlava, jurisPR-ArbR 41/2014 Anm. 6; Weller, BB 2014, 2554, 2560; ausführlich Polzer/Kafka, NJW 2015, 2289, 2292; a.A. Ecklebe, DB 2014, 1991). Gerade der vorliegende Sachverhalt zeigt anschaulich, dass die neuere Rechtsprechung zutreffend ist. Das unionsrechtliche Leitbild, das sich auch auf Art. 31 Abs. 2 der EU-Grundrechte-Charta stützen kann, die hier zur Auslegung heranzuziehen ist, verlangt eine solche Einbettung in die Systematik des Arbeitsschutzrechts (dazu ausführlich: Hinrichs in: HaKo-ArbSchR, Urlaub und Gesundheitsschutz Rn. 14, 31).
D. Auswirkungen für die Praxis
Eine relativ aktuelle Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hat ergeben, dass bis zu 37% der Vollzeitbeschäftigten auf einen Teil ihres Jahresurlaubs verzichten. Nach Befragungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) erhalten mehr als 30% der geringfügig beschäftigten Arbeitnehmer keinen bezahlten Urlaub (Hinrichs in: HaKo-ArbSchR, Urlaub und Gesundheitsschutz Rn. 51; Schnitzlein, DIW-Wochenbericht Nr. 51, 52/2011, 14 ff., 20). Das ist nicht akzeptabel. In solchen Betrieben ist – ggf. durch Betriebsvereinbarung – ein System zu installieren, das mit einer Abfrage bzw. Mitteilung der Urlaubswünsche beginnt, so dass danach die Urlaubszeiträume nach transparenten Kriterien verteilt werden können. Schließlich bedarf es eines Konfliktregelungsverfahrens, das in Betrieben mit Betriebsrat durch § 87 Abs. 1 Nr. 5 BetrVG vorgegeben ist (dazu Polzer/Kafka, NJW 2015, 2289, 2293).
In den Betrieben, in denen solche Regelungen nicht installiert und praktiziert werden, dürfte – ähnlich wie im vorliegenden Fall – Rechtsschutz zumindest nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses erfolgen. Der Anspruch auf (Ersatz-)Urlaub, hilfsweise Urlaubsabgeltung kann auch im Wege der Klagehäufung mit einer Kündigungsschutzklage geltend gemacht werden.
Rechtsgrundsätzlich weist der Fall auf die Notwendigkeit der bisher fehlenden Verbandsklage im Arbeitsrecht hin. In der Mehrzahl der europäischen Nachbarländer ist auch für die Überwachung des Urlaubsanspruchs die Arbeitsschutzbehörde zuständig; die bisherige deutsche Rechtslage steht in deutlichem Gegensatz zu Art. 4 Abs. 2 der RL 89/391/EWG.
Schließlich macht dieser Fall deutlich, dass eine Abkehr von der Verzugsrechtsprechung des BAG geboten ist (dazu ausführlich Kohte in: Festschrift Schwerdtner, 2003, S. 99, 112 ff.). Im Arbeits- und Gesundheitsschutz darf ein Arbeitgeber nicht abwarten, dass die Arbeitnehmer aktiv werden; er hat von sich aus den Betrieb so zu organisieren, dass die Arbeitsschutzgrenzen eingehalten werden (BAG, Beschl. v. 06.05.2003 – 1 ABR 13/02 Rn. 65). Folgerichtig wird in der Literatur auch diskutiert, dass sich hier ein neues Feld für Vorlageverfahren eröffnet hat (Schaub/Linck, Arbeitsrechts-Handbuch, 16. Aufl. 2016, § 104 Rn. 74). Erste Hinweise zu einer möglichen Antwort finden sich am Ende des EuGH-Urteils „Bollacke“ (EuGH, Urt. v. 12.06.2014 – C-118/13 – NZA 2014, 651 Rn. 30; dazu auch Kloppenburg, jurisPR-ArbR 29/2014 Anm. 1, und Polzer/Kafka, NJW 2015, 2289, 2292).