Nachfolgend ein Beitrag vom 15.3.2017 von Jacobs, jurisPR-ArbR 11/2017 Anm. 1

Leitsatz

Das Hausrecht des Arbeitgebers ist im Arbeitskampf nicht durch das Streikrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG eingeschränkt. Der Arbeitgeber ist daher nicht verpflichtet, Streikmaßnahmen auf seinem Betriebsgelände zu dulden.

A. Problemstellung

Seit 2013 versucht die Gewerkschaft ver.di, den Online-Versandhändler Amazon durch Streiks zu Verhandlungen über den Abschluss von Einzelhandelstarifverträgen zu zwingen. Bislang wendet Amazon auf die Arbeitsverhältnisse seiner Arbeitnehmer die Tarifverträge der Transport- und Logistikbranche an. In diesem Kontext kam es bei verschiedenen Tochterunternehmen zum Streit darüber, ob ver.di berechtigt ist, Streikmaßnahmen auf dem jeweiligen Betriebsgelände durchzuführen.
Über eine solche Konstellation musste das LArbG Mainz in dem hier besprochenen Urteil entscheiden (vgl. außerdem dazu ArbG Berlin, Urt. v. 07.04.2016 – 41 Ca 15029/15 Rn. 32 ff.; in einem Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes LArbG Stuttgart, Urt. v. 24.02.2016 – 2 SaGa 1/15).

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Das betroffene Tochterunternehmen von Amazon (im Folgenden: Arbeitgeber) ist Mieter eines großen Betriebsgeländes, auf dem sich Gebäude und größere Parkplatzflächen befinden. In den Gebäuden werden Artikel zum Warenversand verpackt. In sie gelangt man über einen Haupteingang („B-Tower“). Die Parkplätze für die Arbeitnehmer werden über eine Straße angefahren, die parallel zum Betriebsgelände verläuft. Die weitaus meisten Arbeitnehmer benutzen diese Straße zur An- und Abfahrt. An ihr liegt unweit des Betriebsgeländes eine Bushaltestelle, die derzeit nicht bedient wird und neben der sich eine nicht genutzte Grünfläche befindet. An der Einfahrt zum Betriebsgelände befinden sich Schilder mit der Aufschrift: „Privatgrundstück – Unbefugten ist das Betreten und Befahren verboten!“.
Nach einem Streikaufruf von ver.di postierten sich am 16.12.2014 ein Streikleiter und 65 Arbeitnehmer auf dem Betriebsgelände vor dem „B-Tower“ und versuchten, weitere Arbeitnehmer des Arbeitgebers zu einer Teilnahme am Streik zu bewegen. Diese Streikmaßnahme wurde vom ArbG Koblenz untersagt (ArbG Koblenz v. 16.12.2014 – 11 Ga 84/14). Nach einem zweiten Streikaufruf von ver.di kam es erneut zu Streikmaßnahmen auf dem Betriebsgelände vor dem „B-Tower“. Wiederum sollten weitere Arbeitnehmer für eine Streikteilnahme mobilisiert werden. Wiederum untersagte das ArbG Koblenz den Streik (ArbG Koblenz v. 30.03.2015 – 7 Ga 18/15).
Der Arbeitgeber beantragte in erster Instanz im Wesentlichen, der Gewerkschaft ver.di zu untersagen, Streikmaßnahmen auf ihrem Betriebsgelände durchzuführen. Das ArbG Koblenz hatte die Klage abgewiesen. In der Berufungsinstanz verfolgte der Arbeitgeber sein Begehren weiter.
Das LArbG Mainz hat seinem Hauptantrag stattgegeben.
Nach Auffassung der 4. Kammer besteht ein Anspruch aus § 862 Abs. 1 Satz 2 BGB, auf dem gesamten Betriebsgelände Streikmaßnahmen zu unterlassen.
Ver.di habe den Besitz des Arbeitgebers wiederholt gestört, indem sie unberechtigterweise Streikmaßnahmen auf dem Betriebsgelände durchgeführt habe. Da sich der Arbeitgeber hiergegen bereits mehrfach durch einstweilige Verfügungen zur Wehr setzen musste und ver.di nach wie vor auf dem Betriebsgelände Streikmaßnahmen durchführen wolle, sei die nach § 861 Abs. 1 Satz 2 BGB erforderliche Wiederholungsgefahr zu bejahen.
Ver.di könne nicht nach § 863 BGB einwenden, die Besitzstörung beruhe nicht auf verbotener Eigenmacht. Der Arbeitgeber sei nicht nach Art. 9 Abs. 3 GG verpflichtet, Streikmaßnahmen auf seinem Betriebsgelände zu dulden. Zwar unterfielen die Streikmaßnahmen, wie die 4. Kammer näher ausführt, dem Schutzbereich der Koalitionsfreiheit.
Indem ver.di für die Streikmaßnahmen das Besitzrecht des Arbeitgebers am Betriebsgelände beanspruche, kollidiere ihr Handeln jedoch mit dessen nach Art. 14 GG ebenfalls verfassungsrechtlich geschützter Rechtsposition. In diesem Fall müsse im Wege einer Güterabwägung nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz ein schonender Ausgleich der gegenläufigen, gleichermaßen verfassungsrechtlich geschützten Interessen mit dem Ziel ihrer Optimierung herbeigeführt werden.
Für den zu entscheidenden Fall kommt das LArbG Mainz vor diesem Hintergrund zu dem Ergebnis, dass der Arbeitgeber die Durchführung von Streikmaßnahmen auf seinem Betriebsgelände nicht dulden müsse. Als dessen Besitzer habe er insoweit das Hausrecht (§§ 855 ff. BGB). Er könne frei darüber entscheiden, wer das Betriebsgelände betreten dürfe und wer nicht, und auch darüber, zu welchem Zweck das Gelände betreten werden dürfe. Das auf dem Besitz beruhende Hausrecht müsse der verfassungsrechtlich geschützten gewerkschaftlichen Betätigungsfreiheit nicht weichen. Außerdem müsse der Arbeitgeber nicht an Streikmaßnahmen der Gewerkschaft durch die Bereitstellung von Betriebsmitteln, zu denen das Betriebsgelände gehöre, mitwirken. Es sei Aufgabe der jeweiligen Gewerkschaft und ihrer Mitglieder, Arbeitnehmer zur Streikteilnahme zu mobilisieren. Der Arbeitgeber müsse dazu keine eigenen Betriebsmittel zur Verfügung stellen, selbst wenn im Einzelfall eine geringfügige Nutzung des Betriebsgeländes das Interesse des Arbeitgebers, seinen Arbeitnehmern Parkplätze zur Verfügung zu stellen und den nicht streikenden Arbeitnehmern den ungehinderten Zugang zum Betrieb zu gewährleisten, kaum beeinträchtige. Es komme auch nicht darauf an, ob ein privater Hausrechtsinhaber wie der Arbeitgeber im Einzelfall gehalten sei, sein Hausrecht „grundrechtsfreundlich“ auszuüben.
Ver.di sei nämlich zur Durchführung der Streikmaßnahme und zur Mobilisierung von Arbeitnehmern zur Streikteilnahme nicht auf die Nutzung des Betriebsgeländes des Arbeitgebers angewiesen. Sie könne die Streikmaßnahme ohne weiteres auch außerhalb des Betriebsgeländes durchführen, nämlich unweit der Einfahrt auf das Betriebsgelände an der stillgelegten Bushaltestelle (einschließlich Grünfläche) in der Zufahrtstraße. Der weitaus größte Teil der Arbeitnehmer benutzt sie zur An- und Abfahrt mit dem PKW. Die Bushaltestelle sei deshalb im Hinblick auf ihre Lage, Größe und Beschaffenheit gut geeignet, um etwa durch Transparente auf sich aufmerksam zu machen und vorbeifahrende Arbeitnehmer zum Anhalten zu veranlassen, um diese sodann zur Streikteilname zu bewegen. Das gelte selbst dann, wenn die Bushaltestelle in Zukunft wieder bedient werden würde: Da davon auszugehen sei, dass ein Teil der Arbeitnehmer dann mit dem Bus zur Arbeit an- und abfahren und an der Bushaltestellte aus- und einsteigen würde, wären diese durch ver.di sogar noch besser als bisher ansprechbar.

C. Kontext der Entscheidung

Dem Urteil des LArbG Mainz ist im Ergebnis und in der Begründung zuzustimmen.
Die entscheidende Frage ist, ob verbotene Eigenmacht vorliegt, so dass die Störung des Besitzes nicht gerechtfertigt ist (§ 863 BGB). Dafür müssen die beiden betroffenen Grundrechtspositionen aus Art. 9 Abs. 3 GG einerseits und Art. 2, 14 GG andererseits sorgfältig miteinander abgewogen werden. Im Wege einer Güterabwägung ist nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz ein schonender Ausgleich mit dem Ziel ihrer Optimierung herbeizuführen. Dabei sind die kollidierenden Grundrechte in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und so zu begrenzen, dass sie möglichst weitgehend wirksam werden. Die Abwägung geht in diesem Fall zugunsten des Arbeitgebers aus.
Das auf Eigentum und Besitz beruhende Hausrecht ist durch die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2, 14 GG verfassungsrechtlich geschützt und einfachgesetzlich durch die §§ 904, 1004 BGB, die §§ 858 ff. BGB und § 123 StGB konkretisiert. Sein Inhaber kann deshalb grundsätzlich frei darüber entscheiden, wem er den Zutritt zu einem Grundstück gestattet und wem er ihn verwehrt und ob der Zutritt nur zu bestimmten Zwecken erfolgen darf (BGH, Urt. v. 20.01.2006 – V ZR 134/05 – NJW 2006, 1054 Rn. 7; BAG, Urt. v. 22.09.2009 – 1 AZR 972/08 Rn. 57 – BAGE 132, 140). Im Kontext eines Streiks muss das Hausrecht der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten gewerkschaftlichen Betätigungsfreiheit grundsätzlich nicht weichen. Wäre der Arbeitgeber verpflichtet, die Nutzung des eigenen Betriebsgeländes zu Streikmaßnahmen zu dulden, müsste er an der eigenen streikbedingten Schädigung durch die Bereitstellung von Betriebsmitteln mitwirken. Das ist ihm nicht zuzumuten (BAG, Beschl. v. 15.10.2013 – 1 ABR 31/12 Rn 36 ff. – BAGE 146, 189). Dass das BAG ein Recht zum Zutritt zum Betrieb zum Zweck der Werbung für die Gewerkschaft anerkennt (BAG, Urt. v. 22.06.2010 – 1 AZR 179/09 Rn. 28 ff. – BAGE 135, 1; BAG, Beschl. v. 15.10.2013 – 1 ABR 31/12 Rn. 38 – BAGE 146, 189), ändert daran nichts: Beide Fallgruppen – Streikmaßnahmen gegen den Arbeitgeber samt Mobilisierungsmaßnahmen einerseits und Werbemaßnahmen andererseits – sind nicht miteinander vergleichbar.
Im Rahmen eines Streiks kann sich nur ausnahmsweise etwas anderes ergeben. Art. 9 Abs. 3 GG ist nämlich auch ein Kommunikationsgrundrecht (Wolter in: Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl. 2011, § 16 Rn. 44). Seine Gewährleistungen können nur wirksam werden, wenn sein kommunikativer Charakter bei der rechtlichen Beurteilung einer koalitionsspezifischen Maßnahme hinreichend berücksichtigt wird.
Dazu gehört bei einer Streikmaßnahme, dass die Kommunikation der Streikenden untereinander und der Streikenden gegenüber nicht streikenden Arbeitnehmern möglich sein muss, um den Streik effektiv durchführen und für ihn werben und mobilisieren zu können (Wolter in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 16 Rn. 44, der allerdings auch „Zulieferer und Fremdfirmenarbeiter“ einbezieht). Daraus folgt, dass das Hausrecht dem Streikrecht weichen muss, wenn die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Kommunikation der Streikenden mit nicht streikenden Arbeitnehmern nicht möglich ist, ohne das Betriebsgelände des Arbeitgebers zu benutzen. Das kann sich im Einzelfall aus den betrieblichen Gegebenheiten, etwa der betrieblichen Organisation von Zugangswegen, ergeben oder daraus, dass nicht streikende Arbeitnehmer nur abgeschirmt – etwa in Bussen mit verhängten Fenstern – in den bestreikten Betrieb gebracht werden. Ferner ist es bei Streikposten zum Beispiel denkbar, dass es wegen der örtlichen Gegebenheiten nicht möglich ist, sich ohne Gefahr für Leib oder Leben außerhalb des Betriebsgeländes aufzuhalten und gleichzeitig der Aufgabe als Streikposten nachzugehen, weil das Grundstück des Arbeitgebers unmittelbar an eine stark befahrene Straße grenzt (Beispiel von Wolter in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 16 Rn. 28).
Sieht man von diesen kommunikationsbedingten Besonderheiten ab, gibt es kein allgemeines Recht auf „Streik am Arbeitsplatz“ (so aber Däubler, Das Arbeitsrecht 1, 16. Aufl. 2006, Rn. 717; ebenso Wolter in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 16 Rn. 92 im Kontext der Frage nach einer Strafbarkeit wegen Hausfriedensbruchs; wie hier im Kontext der Betriebsbesetzung Otto, Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, 2006, § 11 Rn. 8 f., relativierend Rn. 11 für eine „Streikversammlung“, solange der Arbeitgeber die Arbeitnehmer nicht des Betriebs verweist; gegen die Betriebsbesetzung BAG, Urt. v. 14.02.1978 – 1 AZR 76/76 – BAGE 30, 50). Ein Betreten des Betriebs durch den Arbeitnehmer oder sein Verweilen im Betrieb muss der Arbeitgeber nicht dulden, solange der Arbeitnehmer nicht seine arbeitsvertraglichen Pflichten erbringen möchte und Art. 9 Abs. 3 GG die Duldung nicht wie beschrieben ausnahmsweise erfordert (Kissel, Arbeitskampfrecht, 2002, § 61 Rn. 63). Es kommt, solange die Kommunikation problemlos von Stellen außerhalb des Betriebsgeländes erfolgen kann, auch nicht darauf an, wie intensiv das Eigentum des Arbeitgebers beeinträchtigt wird (wie hier LArbG Mainz in der besprochenen Entscheidung; ArbG Berlin, Urt. v. 07.04.2016 – 41 Ca 15029/15, Rn. 32 ff.; anders aber Linsenmaier in: ErfKomm, 17. Aufl. 2017, Art. 9 GG Rn. 177 zum Betreten von Betriebsparkplätzen auf einem weiträumigen Betriebsgelände alleine, um Arbeitswillige zu beeinflussen, solange der Betriebsablauf nicht behindert wird; in einem Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes ebenfalls LArbG Stuttgart, Urt. v. 24.02.2016 – 2 SaGa 1/15 Rn. 41 ff.).
In dem Fall, den die 4. Kammer des LArbG Mainz entschieden musste, war ver.di zur Durchführung der Streikmaßnahmen und zur Mobilisierung von Arbeitnehmern zur Streikteilnahme nicht auf die Nutzung des Betriebsgeländes des Arbeitgebers angewiesen. Sie hätte die betreffenden Maßnahmen nicht weniger effektiv auch außerhalb des Betriebsgeländes durchführen können, nämlich an der unweit der Einfahrt auf das Gelände gelegenen (stillgelegten) Bushaltestelle (einschließlich Grünfläche), an der die Zufahrtsstraße vorbeiführt, die der weitaus größte Teil der Arbeitnehmer zur An- und Abfahrt mit dem eigenen Auto nutzt. Die Bushaltestelle ist im Hinblick auf ihre Lage, Größe und Beschaffenheit gut geeignet, um beispielsweise durch Transparente oder ähnliche Maßnahmen auf sich aufmerksam zu machen und vorbeifahrende Arbeitnehmer zum Anhalten zu veranlassen, um sie zur Streikteilname zu bewegen. Sollte die Bushaltestelle in Zukunft wieder vom öffentlichen Personennahverkehr bedient werden, könnte ver.di den Teil der Arbeitnehmer, der mit dem Bus zur Arbeit anfährt und an der Bushaltestelle aussteigt, direkt und damit noch besser ansprechen.

D. Auswirkungen für die Praxis

Gewerkschaften dürfen Streikmaßnahmen grundsätzlich nicht auf dem Betriebsgelände des Arbeitgebers durchführen. Es gibt kein Recht auf „Streik am Arbeitsplatz“. Ausnahmsweise kann sich im Einzelfall aus Art. 9 Abs. 3 GG etwas anderes ergeben, wenn auf andere Weise eine Kommunikation unter den Streikenden oder vor allen von Streikenden und nicht streikenden Arbeitnehmern nicht möglich ist.