Nachfolgend ein Beitrag vom 7.6.2017 von Göhle-Sander, jurisPR-ArbR 23/2017 Anm. 6
Orientierungssätze
1. Eine Risikoabschätzung einer ausreichend bemittelten Person setzt nicht die Aussicht eines sicheren Obsiegens voraus. Erweist sich aber die Rechtsverfolgung in Anknüpfung an das für die Beurteilung der Rechtslage relevante Vorbringen des Rechtsschutzsuchenden ohne vernünftigen Zweifel als aussichtslos, ist also die Erfolgschance in der Hauptsache nur eine entfernte, und stehen keine schwierigen oder ungeklärten Rechtsfragen im Raum, so darf die Gewährung von Prozesskostenhilfe verweigert werden.
2. Die Aufgabe einer Arztpraxis, ist ein besonderer Fall i.S.v. § 18 Abs. 1 Satz 4 BEEG, in dem die Kündigung während der Elternzeit ausnahmsweise für zulässig erklärt werden kann.
A. Problemstellung
Die Entscheidung befasst sich mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen einer in Elternzeit befindlichen Arbeitnehmerin Prozesskostenhilfe (PKH) für ihre Klage zu gewähren ist, mit der sie sich gegen den Bescheid der Arbeitsschutzbehörde richtet, der die Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses für zulässig erklärt.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das OVG Münster hatte über eine Beschwerde gegen die Versagung von PKH für eine Anfechtungsklage durch die Vorinstanz zu entscheiden. Tatsächlicher Hintergrund des Rechtsschutzbegehrens ist eine vom Arbeitgeber der Klägerin beabsichtigte betriebsbedingte Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
Die Klägerin war in einer Arztpraxis beschäftigt, die aufgegeben werden sollte. Da sie sich in Elternzeit befand, beantragte ihr Arbeitgeber bei der zuständigen Bezirksregierung die Zustimmung zur Kündigung, die im Mai 2016 erteilt wurde. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Klage vor dem Verwaltungsgericht, für die sie gleichzeitig um Bewilligung von PKH bat. Der PKH-Antrag blieb in beiden Instanzen erfolglos.
Das OVG Münster folgt dem Verwaltungsgericht in dessen Ansicht, der Rechtsverfolgung der Klägerin fehle die notwendige hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Aufgabe der Arztpraxis, zu der die Bezirksregierung ausreichende Ermittlungen angestellt habe, sei ein besonderer Fall i.S.d. § 18 Abs. 1 Satz 4 BEEG, in dem eine Kündigung ausnahmsweise habe für zulässig erklärt werden können. Auch seien keine Ermessensfehler der Bezirksregierung zu erkennen.
C. Kontext der Entscheidung
Im verwaltungsgerichtlichen (wie im zivilgerichtlichen) Verfahren erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht oder nur eingeschränkt aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Erfolgsaussichten bietet und nicht mutwillig erscheint. § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO verweist insoweit auf § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO, der wiederum Ausfluss des Rechts auf effektiven und gleichen Rechtsschutz (Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 20 Abs. 3 GG) ist (BVerfG, Beschl. v. 13.03.1990 – 2 BvR 94/88 – BVerfGE 81, 347, 356 f.). Die Prüfung der Erfolgsaussichten erlaubt es nicht, die Rechtsverfolgung selbst in das summarische Nebenverfahren der PKH zu verlagern. Dies schließt aus, dass schwierige, bisher ungeklärte Rechts- und Tatfragen im PKH-Verfahren entschieden werden (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 14.02.2017 -1 BvR 2507/16; vgl. a. LArbG Chemnitz, Beschl. v. 20.10.2011 – 4 Ta 178/11 (7)). Auch dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung nicht so hoch angesetzt werden, dass dem Unbemittelten der Zugang zu Gericht im Vergleich zu einem Bemittelten, der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei auch sein Kostenrisiko berücksichtigt, unverhältnismäßig erschwert wird (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 03.12.2013 – 1 BvR 953/11). PKH ist daher nur dann zu versagen, wenn der Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (BVerfG, Beschl. v. 13.03.1990 – 2 BvR 94/88 – BVerfGE 81, 347, 356 f.; s. auch LArbG Hamm, Beschl. v. 15.07.2015 – 5 Ta 195/15).
Das OVG Münster folgt diesen durch das BVerfG vorgezeichneten Grundsätzen. Es hält das Begehren der Klägerin im Hauptsacheverfahren für aussichtslos, bestenfalls für entfernt Erfolg versprechend, ohne dass schwierige oder ungeklärte Rechtsfragen zur Entscheidung stehen. Der Arbeitgeber darf das Arbeitsverhältnis seiner in Elternzeit befindlichen Arbeitnehmerin nur kündigen, wenn die zuständige Arbeitsschutzbehörde – in NRW die Bezirksregierung – die Kündigung ausnahmsweise für zulässig erklärt (§ 18 Abs. 1 Satz 4, 5 BEEG). Erst nach Erlass dieses rechtsgestaltenden Verwaltungsakts, der das Kündigungsverbot aufhebt, kann der Arbeitgeber die Kündigung erklären. Ein Kündigungsausspruch unter der Bedingung der nachträglichen Zulassungserklärung ist rechtsunwirksam (Gallner in: KR, 11. Aufl., § 9 MuSchG Rn. 120). Die Zulässigkeitserklärung ist auf „besondere Fälle“ beschränkt. Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Kündigungsschutz bei Elternzeit vom 03.01.2007 (BAnz. Nr. 5, S. 247) beschreibt solche „besonderen Fälle“ beispielhaft. Zu ihnen gehört der Fall der Betriebsstilllegung ohne Weiterbeschäftigungsmöglichkeit in einem anderen Betrieb. Ob ein „besonderer Fall“ vorliegt, unterliegt der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle in vollem Umfang (BVerwG, Urt. v. 18.08.1977 – V C 8.77 – BVerwGE 54, 276, zu § 9 MuSchG). Das OVG Münster geht in der Entscheidung ersichtlich davon aus, dass die Bezirksregierung im Rahmen der ihr obliegenden Amtsermittlung die notwendigen Prüfungen angestellt hat, um ihr in der Feststellung folgen zu können, der Arbeitgeber der Klägerin habe seine Arztpraxis endgültig aufgegeben. Die Ansicht der Klägerin, die Bezirksregierung habe die Betriebsstilllegung nicht ausreichend geprüft, lässt das Gericht unter Verweis auf die von der Behörde erhobenen Ermittlungen ausdrücklich nicht gelten.
Ein etwaiger Betriebsübergang spielte für die Entscheidung keine Rolle. Er wird nicht erwähnt, was dafür spricht, dass es für ihn schon rein tatsächlich keine Anhaltspunkte gab. Auf der Basis der herrschenden Meinung, wonach ein etwaiger Betriebsübergang nicht zum Kanon der behördlichen bzw. verwaltungsgerichtlichen Prüfung gehört (vgl. zur Frage eines Betriebsübergangs bei Veräußerung einer Arztpraxis BAG, Urt. v. 22.06.2011 – 8 AZR 107/10: alleinige Entscheidungsbefugnis liegt bei den Gerichten für Arbeitssachen; Bader in: KR, § 18 BEEG Rn. 67; Vossen in: Dornbusch/Fischermeier/Löwisch, AR-Komm., 8. Aufl., § 9 MuSchG Rn. 28), wäre er aber – jedenfalls im Streitfall – auch aus Rechtsgründen ohne Belang gewesen
Zutreffend misst das OVG Münster auch dem Einwand der Klägerin keine entscheidungserhebliche Bedeutung bei, ihr Arbeitgeber habe es möglicherweise an ausreichenden Bemühungen fehlen lassen, einen Nachfolger für die Praxis zu finden. Die vom Arbeitgeber getroffene unternehmerische Entscheidung, seine Arztpraxis weder selbst noch durch Dritte fortzuführen, ist – bis zur Grenze der Willkür – nicht auf ihre Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit nachzuprüfen (vgl. zu § 1 KSchG: BAG, Urt. v. 07.07.2005 – 2 AZR 447/04; Griebeling in: KR, § 1 KSchG Rn. 522, 579). Im Übrigen hätte auch das Unterlassen einer Nachfolgesuche nichts am Tatbestand der fehlenden Weiterbeschäftigungsmöglichkeit durch den die Zulässigkeitserklärung begehrenden Arbeitgeber geändert, solange nur die Aufgabe der Praxis für das verwaltungsgerichtliche Verfahren feststand.
Dass die Betriebsstilllegung bei fehlender Weiterbeschäftigungsmöglichkeit einen „besonderen Fall“ i.S.d. § 18 Abs. 1 Satz 4 BEEG darstellt, ist nicht nur in der zugehörigen Verwaltungsvorschrift festgelegt, die allein die Behörden, nicht die Verwaltungsgerichte bindet (Bader in: KR, § 18 BEEG Rn. 33). Auch in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte ist allgemein anerkannt, den Fall einer Betriebsschließung als Ausnahmefall einzustufen, der die Kündigung eines in Elternzeit befindlichen Arbeitnehmers zulässt (BVerwG, Urt. v. 18.08.1977 – V C 8.77; BVerwG, Urt. v. 30.09.2009 – 5 C 32/08 – BVerwGE 135, 67). Das BVerwG fordert für den „besonderen Fall“ i.S.d. § 18 Abs. 1 Satz 4 BEEG außergewöhnliche Umstände, die es rechtfertigen, dass die vom Gesetz grundsätzlich als vorrangig angesehenen Interessen des in Elternzeit befindlichen Arbeitnehmers hinter den Interessen des Arbeitgebers an der Auflösung des Arbeitsverhältnisses zurücktreten. Dies ist bei einer dauerhaften Betriebsstilllegung in aller Regel der Fall (BVerwG, Urt. v. 30.09.2009 – 5 C 32/08, unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung zu § 18 BErzGG in BR-Drs. 350/85). Das Kündigungsverbot des § 18 BEEG dient nicht der Aufrechterhaltung eines sinnentleerten Arbeitsverhältnisses. Dem haben sich die verwaltungsgerichtlichen Instanzgerichte einhellig angeschlossen (vgl. etwa OVG Greifswald, Urt. v. 30.06.2000 – 1 L 209/99; OVG Münster, Urt. v. 21.03.2000 – 22 A 5137/99; VGH München, Beschl. v. 06.03.2012 – 12 ZB 10.2202; VG Stuttgart, Urt. v. 26.10.2011 – 7 K 2349/10; so auch BAG, Urt. v. 20.01.2005 – 2 AZR 500/03). Das OVG Münster konnte deshalb zu Recht von einer – zulasten der Klägerin – geklärten Rechtslage ausgehen, die für eine Zubilligung von PKH keinen Anlass bot.
An diesem Ergebnis ändert sich schließlich auch nichts dadurch, dass im verwaltungsgerichtlichen Verfahren die zusätzlich zur Feststellung des „besonderen Falles“ zu treffende behördliche Ermessensentscheidung und damit die Entscheidung darüber, ob das Interesse des Arbeitgebers an der Auflösung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung des Normzwecks und der Belange aller Beteiligten überwiegt, zu überprüfen ist (vgl. dazu Bader in: KR, § 18 BEEG Rn. 69). Der Umstand, dass dem eine Betrachtung aller maßgeblichen Einzelfallumstände zugrunde liegt, führt nicht zwingend zu dem Schluss, dass zumindest insoweit eine hinreichende Erfolgsaussicht für das Klagebegehren i.S.d. § 114 ZPO nicht ausgeschlossen ist. Jedenfalls in klar gelagerten Fällen kann auch die Betrachtung des Einzelfalls im Rahmen der Entscheidung über einen PKH-Antrag erfolgen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 20.06.2016 – 2 BvR 748/13). Der Klägerin war es nicht gelungen, konkrete Interessen aufzuzeigen, die dem Arbeitgeber die Fortführung des Arbeitsverhältnisses trotz der Aufgabe der Arztpraxis zumutbar machten. So hat etwa das BAG den Arbeitgeber nicht für verpflichtet gesehen, die Kündigung eines in Elternzeit befindlichen Arbeitnehmers bei einer Betriebsstilllegung mit einer sozialen Auslauffrist bis zum Ende der Elternzeit zu versehen (BAG, Urt. v. 20.01.2005 – 2 AZR 500/03). Auch bleiben etwaige sozialversicherungsrechtliche Folgen einer Kündigung während der Elternzeit außer Betracht (BVerwG, Urt. v. 30.09.2009 – 5 C 32/08: Verlust der beitragsfreien Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung; BAG, Urt. v. 27.02.2014 – 6 AZR 301/12). Letztlich kann sich eine einzelfallbezogene Interessenabwägung im Fall einer beabsichtigten Kündigung wegen Betriebsstilllegung allenfalls in seltenen Ausnahmefällen zugunsten des Arbeitnehmers auswirken (so zur betriebsbedingten Kündigung: BAG, Urt. v. 16.06.2005 – 6 AZR 476/04).
D. Auswirkungen für die Praxis
Der Beschluss des OVG Münster folgt zur Frage der PKH-Gewährung ganz der Linie des BVerfG, ohne dass der zu entscheidende Fall Anlass zu weiterführenden Vertiefungen gab. Er verdeutlicht, dass das Gebot der Rechtsschutzgleichheit den PKH-Antragsteller nicht von der Anforderung entbindet, eine klare, für ihn nachteilige Rechtslage zur Kenntnis zu nehmen und gegen sie jedenfalls nur auf eigenes (Kosten-)Risiko anzugehen. Die Aufgabe der Arztpraxis als „besonderen Fall“ zu qualifizieren, der eine Kündigung in der Elternzeit nach § 18 Abs. 1 Satz 4 BEEG ausnahmsweise ermöglicht, bestätigt die gängige Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Bei einem sich eventuell anschließenden Kündigungsrechtsstreit wäre das zuständige Arbeitsgericht an die Zulässigkeitserklärung gebunden, könnte aber das „dringende betriebliche Erfordernis“ für die Kündigung i.S.d. § 1 KSchG – seine Anwendbarkeit unterstellt – selbstständig prüfen.